Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer
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Читать онлайн книгу Flucht nach Mattingley Hall - Nicola Vollkommer страница 7
»Was soll ich nur sagen, Mylord? Ihre Tochter? Weiß sie …?«
»Nein«, unterbrach ihn Lord Medway. »Und sie soll es zunächst auch nicht erfahren.«
Die Stimme des alten Herrn war plötzlich scharf.
»Auf gar keinen Fall darf sie es erfahren.«
Er presste seine Fingerspitzen wieder aneinander, dieses Mal energischer als davor, und starrte konzentriert auf seine straffen Fingergelenke, während er mit dem Oberkörper leicht vor und zurück schaukelte.
»Darf ich fragen, um welche Krankheit es sich handelt?« fragte Mr Argyle. »Vielleicht will Ihr Arzt sich nur gegen eine Fehldiagnose absichern. Oder vom schlimmsten Fall ausgehen, um Sie hoffnungsvoll zu stimmen. Das haben die Ärzte in der Harley Street so an sich. Holen Sie sich doch ein zweites Urteil.«
»Der Arzt hat nur das bestätigt, was ich schon geahnt hatte. Der Körper erzählt seine Geschichte lautstark genug. Jeden Tag mehr. Ich konnte mir schon lange nicht mehr vormachen, dass es nur ein gewöhnlicher Husten ist und die ständige Atemnot nur eine Erkältung. Ich habe gefühlt, dass in der Lunge ein Tumor ist.«
»Wenn ich irgendwas für Sie tun kann?«
Lord Medway schluckte und trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf den Tisch.
»Sie erweisen mir schon einen unbezahlbaren Dienst dadurch, dass Sie meine Tochter und ihr Vermögen unter Ihre Obhut nehmen, Sir. Wenn bald meine Stunde schlagen sollte, dann soll es wohl so sein. Gott weiß, dieses Leben hat mir schon genug Kummer beschert. Der Tod meiner Frau jährt sich diese Woche, und es ist, als ob es gestern gewesen wäre. Ich bin ein gebrochener Mann. Es gibt für mich kein Aufstehen mehr, und ich werde in diesem Leben nie darüber hinwegkommen. Man hat nur eine Seele, und irgendwann hat sie genug getragen. Meine ist verbraucht. Bei jedem von uns ist die Lebensuhr irgendwann abgelaufen, bei dem einen früher, beim anderen später. Versprechen Sie mir nur, meiner Tochter nichts davon zu verraten.«
»Das verspreche ich Ihnen, Mylord«, antwortete Mr Argyle leise.
Sie tranken eine Weile ihren Kaffee, ohne zu reden. Als beide Tassen leer waren, legte Lord Medway seine Hände auf den Tisch, nahm eine aufrechte Stellung ein, presste seine Lippen zusammen und erhob sich.
»Und noch eine Sache, Lord Medway.« Mr Argyle räusperte sich und suchte nach Worten.
»Als ich um die Hand Ihrer Tochter gebeten habe, haben Sie mir auf gewinnende Weise erzählt, welche Rolle der Glaube im Leben Ihrer Familie spielt. Im Licht der traurigen Nachricht, die ich von Ihnen gehört habe, bekräftige ich hiermit mein Vorhaben, mein Leben mit Ihrer Tochter auch diesbezüglich in Ihrem Sinne ehrbar zu gestalten, wie auch bei allen Aufgaben, die mir durch die Verwaltung von Kebworth Place zufallen werden.«
»Das, was Sie gerade gesagt haben, bedeutet mir mehr als alles andere«, antwortete Lord Medway mit bewegter Stimme.
Ein weiterer fester Handschlag versiegelte die stärker gewordene Vertrautheit zwischen den beiden Herren, und gemeinsam gingen sie zur Tür.
»Es hat wieder einen Mord gegeben. Das Monster hat wieder zugeschlagen«, sagte Lord Medway beiläufig, als ob er mit aller Macht das Thema wechseln wollte, während Mr Argyle ihm in seinen Mantel half.
»Seien Sie froh, dass Sie diese Woche zurück nach Yorkshire reisen, Mylord. Und meine liebe Jasmin ist Gott sei Dank schon losgefahren. Die Straßen Londons sind gerade nicht das, was sie früher waren. Dieser Mord ist leider hier in nächster Nähe geschehen. Bis Lady Jasmin zu mir nach London zieht, werden wir aber diesen Schurken gefasst haben.«
»Dass die Wachtmeister ihm nicht auf die Spur kommen, wundert mich. Er verfügt wohl über Zauberkräfte, die ihn unsichtbar machen.«
»Er ist erfinderisch, Mylord, schlüpft durch jedes Loch, kennt unzählige Methoden, ein Menschenleben zu zerstören. Wie kann ein Mann nur so werden? Aber keine Sorge. Er wird fahrlässiger. Ein kleiner Ausrutscher und die Wache hat ihn. Er ist meinen Berichterstattern immer wieder fast in die Arme gelaufen und nur um Haaresbreite davongekommen.«
»Na ja, hoffen wir, dass nicht zu viele nichts ahnende Opfer bis dahin mit dem Leben bezahlen müssen.«.
Die beiden Herren standen inzwischen draußen auf der Straße. Lord Medway hob seinen Hut zum Abschied und stieg in den Hansom ein, den er hergewunken hatte. Bevor der Fahrer die Tür zuschlug, lächelte er Mr Argyle an.
»Aus Ihrem Munde die Worte ›meine liebe Jasmin‹ zu hören, klingt wie Musik in meinen Ohren, mein lieber zukünftiger Schwiegersohn!«
Hubertus verbeugte sich und wartete, bis der Einspänner auf dem unebenen Kopfsteinpflaster davongerumpelt war, zupfte sein Halstuch zurecht und ging in Gedanken versunken zügig zurück zur Fleet Street.
»Jasmin! Was ist mit dir? Wach auf! Schnell!«
Ellen schüttelte das schlaftrunkene Mädchen, das halb liegend neben ihr in der Kutsche saß.
»Nicht einmal ein bisschen Schlaf vergönnst du mir?«, nörgelte Lady Jasmin. Sie stieß Ellen von sich.
»Von wegen Schlaf, Kind. Du hast geschrien wie eine Irrsinnige. Das musst du dir abgewöhnen, bevor du dein Bett mit einem Mann teilst. Jeder Mann, der etwas auf sich hält, liefert dich ins Irrenhaus ein, wenn er so ein Geschrei hört!«
»Ellen, wie kannst du nur so unwirsch sein?«, schrie Lady Jasmin. Sie war plötzlich hellwach. »Ich bin nur aufgeschreckt worden, weil die Kutsche hin und her schaukelt! Wann werden diese Straßen endlich ordentlich instand gesetzt? Und dann noch der Wind! Man muss ja brüllen, um die eigene Stimme zu hören. Da tobt ein Orkan draußen, und du hast mir versprochen, dass das Wetter für die Heimreise wieder gut wird! Und warum ist Vater nicht mit uns mitgereist?«
»Du kennst die Antwort auf all deine Fragen selber, mein Kind. Nicht mal ich habe Macht über das Wetter. Als wir vor zwei Tagen in London losgefahren sind, war es sonnig. Jetzt hat uns das raue Klima des Nordens wieder eingeholt. Und dein Vater hatte in London noch zu tun. Du hast geschrien, als ob du von wilden Tieren gejagt würdest. Hast du wieder schlecht geträumt?«
Lady Jasmin wischte mit einer Hand die beschlagene Fensterscheibe ab und blickte auf die Hecken und Wiesen, die im dichten Abendnebel vorbeiglitten. Die Äste der großen Bäume wurden von dem rauen Wind hin und her geschleudert, und hin und wieder landete ein Zweig, der sich losgerissen hatte, mit einem dumpfen Schlag auf dem Dach der Kutsche. Jasmin drehte sich zu Ellen hin, packte ihren Arm und schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ellen, es waren wieder die Albträume. Sie stand auf der Brücke, sie wippte hin und her. Es war wieder was Neues dabei.«
»Was? Erzähl mir doch, Kind!«
Jasmins Stimme zitterte.
»Eine Stimme hinter ihr rief direkt in ihr Ohr: ›Spring, spring!‹«
Ellen