KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов
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Ich fühle die Panik, die wie eine Lavawelle durch meinen Körper rollt. »Musik«, bricht es aus mir heraus. »Verdammt, Sam, leg es sofort zurück«, schreie ich ihn an. Ich mache mir nicht mal die Mühe, meine Angst zu verbergen. Er starrt auf das Monster und ich spüre sein Zögern. Doch zu meiner Erleichterung folgt er meinem Befehl. Mit einem dumpfen Schlag klappt der Deckel zu. Wir bemerken das leichte Beben, versuchen ruhig zu bleiben. Putz rieselt von der Decke. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Wieder hallt das Wort »Sicher« durch die Räume. Sam kommt näher. »Weiß du, warum die Brut so eine Angst vor Musik, vor Gesang hat?«
Natürlich wusste ich es, wir alle teilten diese Furcht. Für viele berechtigt, fanden andere die Theorie, dass eine weltweite musikalische Gegenwehr unsere Erde zum Beben gebracht hätte, einfach lächerlich. Ein Märchen aus vergangenen Tagen. Fakt ist, dass nach diesem globalen Protestgesang nicht mehr ein Stein auf dem anderen steht. Zufall? Vielleicht!
Natürlich wurde gesungen, im Geheimen hatte jedes Dorf seine Lieder. Und wenn wir als Kinder mit den Frauen sangen, entstand eine ganz eigene Atmosphäre, eine Kraft, die Freude und zugleich Traurigkeit auslöste.
Mein Blick schweift durch den Raum, ich frage mich, was mir dieses Gemäuer erzählen will. Ich war schon an unzähligen verlassenen Orten, hatte ihre Vergangenheit entdeckt. Für mich sind sie Geschichtenerzähler und manchmal schreibe ich das Erzählte nieder. Doch diese Geschichte hier bereitet mir Sorge. Ich zucke zusammen, als Sam näher kommt und fast väterlich eine Hand auf meine Schulter legt.
»Melodien verbinden, stärken, geben Mut und beenden. Und sie«, sein Kopf nickt zum zerbrochenen Fenster, »haben Angst davor. Wovor, Lukas, hast du Angst?«
Mit dieser Frage lässt er mich los, klemmt sich die Gemälde unter den Arm und verschwindet. Verstohlen blicke ich zurück zur Truhe, mache mir Gedanken, was für Menschen diese Ruine mal bewohnt haben. Einen Moment lehne ich mich an die dreckige Wand und lausche, doch mehr als dass wir die Räume ihrer Seele berauben, ist nicht zu hören.
Eine Stunde später ist das Haus leer geräumt. Beim Anblick der Last denke ich wehmütig an den anstrengenden Rückweg. Längst haben wir uns unseren Lohn ausgesucht. Vereinzelte Sonnenstrahlen brechen durch das dicke Grau. In meiner Hand halte ich ein Holzkästchen. Die Größe passt perfekt in meine Tasche. Domino steht darauf. Eine Beschreibung gibt es nicht. Die rechteckigen schwarzen Steine mit den weißen Punkten stelle ich mit etwas Abstand hintereinander auf, so als wenn wir marschierten. Ich tippe den Ersten an und sehe alle anderen fallen.
Ein Befehl unterbricht meine kreative Pause. Wir schnüren unser Gepäck und reihen uns auf. Es ist später Nachmittag, als wir die Straße zurückmarschieren. Ich suche in der Truppe nach Sam und entdecke ihn ganz vorne. Ich frage mich, was er sich ausgesucht hat? Ich habe die Frage kaum zu Ende gedacht, als die schwere Luft einen merkwürdigen Ton über unsere Köpfe hinweg trägt. Ein Klang, der mir die Nackenhaare aufstellt. Es ist eine Melodie, die ich kenne, die wir alle kennen und die plötzlich so starke Gefühle in mir auslöst. Erinnerungen, Wünsche und Träume vermengen sich und sprudeln nach oben. Und als der erste Kamerad den Refrain anstimmt, über grüne Wälder, von rauschenden Bächen und saftigen Bergwiesen, singe ich mit, zuerst leise, dann immer lauter, so wie meine Brüder neben mir. Ich empfinde eine nicht gekannte Verbundenheit. Ich weiß, dass ich Angst hatte, dies niemals zu erleben. Schreie und Kommandos gehen unter, als wir lauthals singen, vom geliebten Heimatland. Die schwere Last fällt zu Boden und wir marschieren weiter. Warnschüsse sind unter unserem Gesang kaum zu hören. Denn die stille Fassade ist gebrochen und mit den Worten von Bruderschaft fallen die ersten Kameraden neben mir wie Steine meiner Dominokette.
Mein Blick schweift ein letztes Mal zurück zum Haus. Längst hat dieser Ort seine spielerische, musikalische und befreiende Geschichte preisgegeben.
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