KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Группа авторов страница 10

KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Группа авторов

Скачать книгу

kreischend wochenlang Fleisch, wenn der Vater oder der Nachbar wieder einmal einen Hasen oder ein Wildschwein nach Hause gebracht hatten, bis man ihr schließlich, entnervt, eine »fleischlose Extrawurst« kochte, wie der Vater süffisant bemerkte.

      Krank wurden beide selten und nur gleichzeitig. Während Klara, weinerlich und wehleidig, nach Tee und Mama verlangte und nachts zu Sybille ins Bett kroch, lag Sybille lobenswert still und äußerte nur selten Widerspruch zum Geschehen im Krankenzimmer. Als Klara eines Tages, fiebrig und zutiefst unglücklich, die Mutter nach dem Gutenachtkuss nicht aus dem Kinderzimmer lassen wollte, sah diese, wie Sybille ihre Lippen bewegte. »Was hast du gesagt?«, wollte sie wissen. »Minnie«, wiederholte das Kind. Richtig, Klara trug ihren Mickey-Mouse-Pyjama, auf dem sich neben dem Mäusepaar einige andere Figuren aus Disneys Universum tummelten, darunter die Kuh Klara, die die Mutter insgeheim schon immer ekelhaft gefunden hatte. Als die Mutter am nächsten Tag ihre Töchter wecken kam, bestätigte Sybille, sie und »ihre Minnie« hätten brav geschlafen.

      Der Name fand rasch Verbreitung, wurde von den anderen Kindergartenkindern aufgegriffen und schließlich sogar von der Kindergartentante, einer frömmlerischen Dame namens Martha, zugezogen aus der benachbarten Gemeinde, verwendet. »Ihre Minnie ist ein reizendes Mäderl«, pflegte sie der Mutter beim Abholen oder bei zufälligen Begegnungen süßlich lächelnd mitzuteilen. »So ein herziges Pupperl.« Ganz anders die andere, bei der rede man gegen eine Wand. In der Tat war Minnie wie gemacht für ihren neuen Namen: zierlich, schwächlich, blässlich, mit großen Augen und trotz ihrer Sturheit weich und verletzlich. Sybille dagegen war robuster, gleichgültiger, kaum zugänglich und oft in seltsame Beharrlichkeiten verbissen, beispielsweise ihre häufigen Weigerungen, an einer bestimmten Stelle die Straße zu überqueren. Ein rechter Trampel halt, wie manche Verwandten für sich befanden, und das Grüßen konnte sie auch nicht.

      Alles in allem aber, da waren sich alle einig, war es schon ein großer Segen, wenn man bedachte, wie alles angefangen hatte, und diese Capricen, wie die Taufpatin der beiden gespreizt bemerkte, werden sich schon auswachsen. Normalerweise gab man nicht allzu viel auf ihre Meinung, denn sie redete mit der gleichen Bestimmtheit auch von Ahnenkulten und Kommunismus, doch im vorliegenden Fall schien sie recht zu behalten.

      Die Probleme begannen, als der Großvater starb. Während er wie üblich bei seinem aus Milchkaffee, Marmeladekipferl und Betablockern bestehenden Frühstück saß, griff er sich kurz ans Herz und wurde einige Stunden später von seinem Sohn, der ihm ein paar Scharniere vorbeibringen wollte, unverändert vorgefunden. Die Hand an der Brust, die Kronenzeitung aufgeschlagen, das Kipferl von Fliegen umsummt. Es sei ganz schnell gegangen, meinte der Arzt, er habe so gut wie nichts gespürt. Ein schönes Alter habe er erreicht, fanden auch die Eltern und trösteten sich damit, dass er bis zum Schluss ganz selbstständig und bis auf die Herzgeschichte kerngesund gewesen sei. Minnie, um die man sich Sorgen gemacht hatte – lange überlegte man, wie man ihr die Nachricht so schonend wie möglich beibringen konnte – ließ sich rasch beruhigen durch die Vorstellung, der Opa sei nun im Himmel bei der Oma daheim und schaue jeden Tag auf sie herunter. Sybilles Reaktion hatte keiner erwartet.

      Sie war fast jeden Tag eine Stunde nach dem Mittagessen zum Großvater hinüberspaziert und hatte so lange an seine Tür geklopft, bis er aus dem Mittagsschlaf erwachte. Daraufhin hatten sie jeder zwei Kekse gegessen, zum Munterwerden (Sybille mochte am liebsten die mit der Marmelade in der Mitte, der Großvater Schichtgebäck, das er Wafferl nannte) und die Zeitung noch einmal durchgeblättert, um zu kontrollieren, ob auch alle Rätsel richtig gelöst waren. Dann waren sie zu ihrem Rundgang aufgebrochen, zuerst zu den Tomaten, die in Kübeln entlang der Hausmauer wuchsen, weiter zu den Himbeeren und den Ribiselstauden und von dort in einem langen Bogen zurück zum Haus. Im Winter gab es freilich keine Tomaten oder Himbeeren, dafür ein Vogelhäuschen und Vogerlsalat im Mistbeet, von dem man laut Sybille, die wiederum den alten Mann wörtlich zitierte, groß und stark wurde.

      Die unerschütterliche Sybille wurde nach dem Tod des Großvaters ernstlich krank, und das zum ersten Mal alleine: Sie fieberte hoch, schlug um sich, um gleich darauf wieder völlig apathisch vor sich hin zu wimmern. Der Hausarzt gab ihr eine Spritze, die sie den ganzen Tag lang, für den man die Beerdigung angesetzt hatte, in einen betäubungsähnlichen Schlaf fallen ließ. Minnie, verstört und mit rot geweinten Augen, wich ihr nicht von der Seite, ebenso die alte Nachbarin, die auf die Mädchen aufpasste und sich vergebens bemühte, Minnie mit Kakao und dem Fernsehkasperl vom Bett ihrer Schwester wegzulocken.

      Als Sybille wieder aufwachte, wirkte sie so desorientiert, dass die Eltern erneut den Arzt riefen. »Na, wen haben wir denn da?«, fragte dieser onkelhaft beim Eintreten. Odette, antwortete Sybille, und dabei blieb es. Niemand verstand, wo sie diesen Namen herhatte.

      Sie begann in den Wochen darauf, sich selbst zu schlagen, kurze, trockene Schläge auf den Kopf, die die Mutter, ohnehin schwer strapaziert, zusammenzucken ließen. Das Kind machte ins Bett und lehnte neue Kleidungsstücke ab. Die Einschulung wurde eine Katastrophe. Odette gebärdete sich wie ein wildes Tier, Minnie weinte verzweifelt und weigerte sich, die Hand ihrer Schwester und die ihrer Mutter, die sie umklammert hielt wie eine abstürzende Bergsteigerin, loszulassen. Mit der Zeit bemerkte die Mutter jedoch eine Beruhigung der Situation, die mit einer winzigen Verschiebung in der Beziehung der Zwillinge zueinander begann: War Minnie, die »Kleine«, früher blind an Odette gehangen, weil sie selbst Trost und Geborgenheit suchte, so schien sie nun auf Odette achtgeben zu wollen. Odette wurde ruhiger. Die Lehrerin schrieb dies dem Gewöhnungseffekt und ihrer Unterrichtsdisziplin zu, der Vater dem Alter.

      Das Haus des Großvaters verfiel unterdessen. Sein Gewand wurde zur Altkleidersammlung gegeben, das Geschirr zum Großteil auf den Pfarrflohmarkt, die Möbel nach und nach verkauft, andere verheizt. Anfangs ging die Mutter, wenn sie etwas Zeit erübrigen konnte, zum Haus, um die Blumenbeete zu wässern, Unkraut zu jäten und die Vogeltränke nachzufüllen. Auch die letzte Tomatenernte fiel gut aus. Im Herbst wurden ihre Besuche seltener, und irgendwann stellte sie sie ganz ein. Von keiner Heckenschere, von keinem Rasenmäher gezügelt, verfielen die Pflanzen in euphorisches Wachstum: Wiesennelken reckten ihre Köpfe den Sonnenblumen entgegen, die wild neben dem Vogelhäuschen aufgegangen waren, Löwenzahn und Disteln liebäugelten mit den Ritzen zwischen den Terrassensteinen, die der Winter für sie Jahr um Jahr verbreiterte. Der Zwetschgenbaum, alt, bemoost und in diesem Jahr beladen mit winzigen, ungenießbaren Früchten, ließ einen Ast zu Boden fallen. Die grüne Farbe an den hölzernen Fensterrahmen und der Tür, daran gewöhnt, Jahr um Jahr von gewissenhaften Pinselstrichen erneuert zu werden, blätterte ab, erst zaghaft, dann forsch und beherzt. Als der Wind ein Fenster eindrückte, nagelte der Vater von außen Bretter davor. Das Dach ließ die Schultern hängen. Ein Amselpärchen nistete im Windfang, zwei Elstern im Schornstein. Von keiner Heizung, keinem sommerlichen Stoßlüften jemals aufgetrocknet, kroch die Feuchtigkeit durch die Holzböden und langsam, gemächlich, die Wände hinauf.

      Im Inneren des Hauses bedeckte der Staub alle Oberflächen und ließ die Kinder rätseln, woher er wohl komme. Der Mutter hatten sie versprechen müssen, das Haus wegen der vielen Gefahren, die diese dort lauern sah, nicht zu betreten; den Schlüssel vermisste sie jedoch nie. Man musste nur sorgsam aufpassen, das Gras vor der Haustür nicht zu zertrampeln, den hohen Schierling, der im Schuhrost wurzelte, nicht zu knicken, keine neuen Spuren zu hinterlassen, wo die Natur dabei war, alte zu tilgen. Die Mädchen kamen fast täglich. In einem Erdverlies unter dem Küchenboden fanden sie Rexgläser, die dem Blick der entrümpelnden Verwandtschaft entgangen waren: Fisolen, Kirschen, Salzgurken. Sie aßen mit den Fingern und stellten die Gläser anschließend säuberlich an ihren verborgenen Platz zurück. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer, tupften vorsichtig auf blätternden Verputz und bewunderten die Bauern bei der Ernte an der Wand im Schlafzimmer, wo vor Kurzem noch das große Bett gestanden hatte. Sie drehten die tauben Wasserhähne auf und zu und brachten die Waschschüssel aus Emaille mit Steinchen zum Klingen. Sie bemalten die Wände mit Bröckchen von Ziegelsteinen. Minnie versuchte, sich wie das Mädchen aus einem ihrer Bücher an die Küchenlampe zu hängen, doch sie riss ab und zerbrach.

      »Aus euch kriegt man ja gar

Скачать книгу