KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов

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KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Группа авторов

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fand sie in den kargen Nachkriegstagen nicht sofort eine Anstellung, wohingegen Franz, HTL-Absolvent und gelernter Zeichner, laut Mikrofilmen, die Minnie in der Bibliothek aufstöberte, beim Wiederaufbau tatkräftig mithalf und wohl die eine oder andere Ladung Baumaterial für sich abzweigen konnte. Die Ehe blieb bis 1950 kinderlos, dann, plötzlich, kamen nacheinander Josefine (1951), Franziska (1952) und Florian (1954) zur Welt. Franz, der über seine Kriegsvergangenheit nicht reden mochte, trank immer mehr, die Jahre 1955 bis 1961 zeigten häufiger werdende Aufenthalte in der Ausnüchterungszelle. Im Frühjahr 1961 verließ er, bereits deutlich angetrunken, das Wirtshaus, in dem er zu Mittag gegessen hatte, und geriet frontal vor einen Pkw, der zwar geistesgegenwärtig schnell, wie die Polizei gegenüber der Zeitung betonte, angehalten wurde, jedoch trotzdem nicht schnell genug, um ein Schädel-Hirn-Trauma bei Franz zu verhindern. Er wurde als Pflegefall in eine Anstalt eingewiesen, wo er 1968 starb. Helga, nunmehr zum zweiten Mal verwitwet, nahm eine Stelle als Wurstverkäuferin an, was gemeinsam mit der Witwen- und Waisenrente für sie und die Kinder reichte. Franziska begann eine Ausbildung als Hebamme, Josefine als Krankenschwester, beide kamen im Bezirkskrankenhaus unter. Florian verließ die Schule, sobald es ging, heiratete keine vier Jahre später eine Tschechin namens Adela, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, wurde ein Jahr später wieder geschieden. Als Helga 1986 starb, setzte sie ihre Töchter als ausschließliche Erbinnen ein, die wiederum ihren Bruder das Wohnrecht einräumten, bis dieser Anfang der Neunzigerjahre das Land verließ. Seitdem stand das Haus leer.

      Als sie das Haus betrat, spürte Minnie ihre Anspannung, die sich über ihre Brust bis tief in die Achselhöhlen zog. Zu ungeduldig, um abzuwarten, bis ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnt hatten, machte sie ein paar tastende Schritte, stieß gegen etwas, stolperte. Odette griff nach ihrem haltlos tastenden Arm, hielt sie fest. »Na, was meinst du? Warte, komm lieber in das Zimmer hier. Ich wollte nichts unternehmen, bevor du es nicht gesehen hast.« Als Minnie sich daraufhin hin und her drehte, vorsichtig ein paar Schritte in die eine, ein paar Schritte in die andere Richtung machte, schüttelte Odette den Kopf. Sie holte ihr Smartphone hervor und leuchtete damit auf die Bodenleiste. »Hier, schau.« Minnie trat näher, kniete sich auf das klebrige Linoleum und schaute auf den blasshellen Flecken synthetischen Lichts. Die Zeichen waren winzig. Sie zogen sich beharrlich wie eine Ameisenstraße die Sesselleiste entlang, dort wo Kratzer am Boden die frühere Position von Möbelstücken verrieten, bildeten panische Kolonien.

      »Ich denke, das war ein Kind«, sagte Odette. »Nur ein Kind kann sich unter einem Kasten oder unter einem Bett verkriechen und auch noch Nachrichten hinterlassen.«

      Minnie stand auf. Sie musste sich räuspern. »Wir sollten zur Polizei gehen.«

      Odette nickte. »Das dachte ich mir.«

      Der Wirbel, der daraufhin folgte, kam für die einen ungelegen, für die anderen überraschend, für wieder andere war er eine willkommene Abwechslung, einig waren sich jedoch alle, dass er einzigartig in der Zweiten Republik war und endlich, wie eine Anrainerin bemerkte und dabei die Kapuze zurückstrich, um ihre praktische Kurzhaarfrisur im Fernsehen besser zur Geltung zu bringen, den leidigen Fall Kampusch ablöste, der für viele Leute ohnehin nicht ganz koscher war, sie wolle jetzt aber nichts Näheres zu Frau Kampusch sagen, sonst heiße es gleich wieder.

      Bagger rückten an, Kriminologen, Gutachter, Journalisten und Schaulustige. Man fand etwas, das schon, aber vorerst unklar blieben Alter und Ursache. Aber was war denn nun wirklich passiert? Diese Frage, in den Köpfen der Menschen bis weit über die Grenzen Österreichs hinaus penetrant herumschwirrend wie eine späte Herbstfliege, wurde wieder und wieder durchbesprochen, um diese Spekulation ergänzt, um jene Vermutung ausgebaut und durch die zahlreichen nebulösen Pressekonferenzen der zuständigen Behörden dergestalt befeuert, dass sie schließlich zu einem unüberschaubaren Geflecht an Antworten ausuferte.

      Der alte Reitlbauer, hieß es, wenn wieder ein Psychologe in einer Nachmittagstalkrunde »aus aktuellem Anlass« zum Thema Kindesmisshandlung zu einer Stellungnahme genötigt worden war, der alte Reitlbauer habe nie verkraftet, dass der Flori so gar nicht nach ihm geraten sei und das den Buben ordentlich spüren lassen, vor allem ganz zum Schluss, nicht schön sei das gewesen. Die beiden Schwestern des vermeintlichen Opfers dementierten umgehend, der Vater sei außerordentlich liebevoll gewesen, von Misshandlung keine Spur, und überhaupt, nach so vielen Jahren die Ehe ihrer armen Eltern anzupatzen, sei schon gar keine Art.

      Der junge Reitlbauer, hieß es, wenn wieder einmal flächendeckend und crossmedial vor der Veröffentlichung von Kinderfotos im Internet gewarnt wurde, der sei schon immer ein stilles Wasser gewesen, ein auffällig unauffälliger Einzelgänger, und dass der nie eine Frau mit nach Hause gebracht hatte in all den Jahren, die er ganz allein in dem Riesenkasten verbracht hatte, das gebe einem schon zu denken. Auch seien die Vorhänge immer zugezogen gewesen, und dass er einen Fotoapparat besessen habe, sei gesichert. Hier meldeten sich die Schwestern nicht zu Wort, der Bruder schien in der Tat ein wunder Punkt in der Familienhistorie zu sein, jedoch wies der örtliche Polizeichef die Anfragen besorgter Nachbarn zurück, man ermittle derzeit »in eine vollkommen andere Richtung«.

      Die Zigeuner hieß es, der Hendlbrater, der ein paar Jahre lang jeden Herbst mit Kind, Kegel und seinem Imbissmobil im Ort Station gemacht hatte, für so jemanden sei ein leer stehendes Haus ja nachgerade eine Einladung.

      Gammler, warfen ein paar hochbetagte Männer ein, unbeirrbar trotz der demonstrativ verdrehten Augen ihrer Enkel. Belgien fand häufige Erwähnung.

      Der Holocaust wurde ins Spiel gebracht, Nazis, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs beinhart die Endlösung weiter vorantreiben wollten, das heißt, nicht die Endlösung, sondern die medizinischen Experimente, die die Rassenforschung revolutionieren sollte. In der Tat schienen die Ermittlungen, zumindest geografisch, in Richtung Nahost betrieben zu werden, ob nun auf der Suche nach dem Täter oder dem Opfer (oder den Opfern!), spaltete die Geister der Nation. Ein Mann namens Simon Goldblum wurde wiederholt zu seiner unaussprechlichen Kindheit am Spiegelgrund interviewt, man war sich einig, dass so etwas sich niemals mehr wiederholen durfte, bedauerte aber dennoch, dass er zur vorliegenden Causa weder Antworten noch Verdachtsmomente beisteuern konnte. Er war halt ein wahllos ausgewähltes unschuldiges Opfer, soviel war klar. Ein Mann namens Manuel Resch und seine Frau Natalie meldeten sich zu Wort, sie hatten stichfeste Beweise für die hinter dem Rücken der Weltbevölkerung betriebene Verschwörung des Finanzjudentums mit den Regierungen der Großstaaten und der Pharmaindustrie, auch litt Natalie seit einer Reise ins ägyptische Sharm-el-Sheikh unter Kopfschmerzen unklarer Herkunft, die jedoch mit Sicherheit durch den Rückflug verursacht worden waren.

      Besorgte Bürger gegen Chemtrails und Spötter gegen Aluhüte gerieten sich in die virtuellen Haare, und die Identitären luden zu gemeinsamer sportlicher Betätigung an der frischen Luft ein. Gerade als die Diskussion sich zu verlagern begann, entdeckten die Medien die Zwillinge. Wie das eigentlich gewesen sei, wollte eine sympathische junge Reporterin wissen, warum sie eigentlich ein unbewohntes Haus betreten hatten, gute dreihundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. »Würden Sie sagen, das war Intuition?«, fragte sie Minnie, als diese an einem späten, sonnigen Nachmittag nach Hause kam. »Oder haben Sie einen konkreten Hinweis erhalten? Was hat Sie auf diese Spur gebracht? Glauben Sie an Zufälle?«

      Minnie zögerte erst, erlaubte der etwa Gleichaltrigen aber schließlich, mit ihr in die Wohnung zu kommen. Sie zeigte ihr die Aufnahmen, erklärte die Systematik ihres Vorgehens und schließlich, sie konnte sich später nicht mehr erklären, wie es dazu gekommen war, landeten die beiden beim Du-Wort sowie bei Tee, Schokoladenkeksen und Babyfotos von ihr und Odette.

      Die Journalistin Manu hatte sich als Kind auch immer eine Schwester gewünscht, war aber mit einem um vieles jüngeren Bruder geschlagen gewesen, der, wie sie bedauernd zugab, in einer völlig anderen Welt gelebt hatte als sie, die sich vor allem mit Figuren aus Kinderbüchern wie Ronja Räubertochter identifiziert hatte. »Ich beneide euch um euer Ding, das ihr da habt«, gestand sie, als sie sich bereits verabschiedet

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