KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов

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KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Группа авторов

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Minnie und Odette (die jedoch das Wort Hobby nie in den Mund genommen hätte) aufbrachte, hatte sie entweder erstaunlich wenig Skrupel, was für ihre journalistischen Instinkte sprach, oder gegenüber ihrer Blattlinie erstaunlich wenig Durchsetzungsvermögen, was gegen ihre Qualitätsansprüche sprach; jedenfalls sah Minnie bestürzt zwei Tage später sich selbst und ihre Schwester als Titelaufmacher auf einer stark pixelnden Vergrößerung auf der alten Holzbank vor den Haus ihres Großvaters sitzen. Wegen der tief einfallenden Sonne, Minnie erinnerte sich, es war Abend gewesen, nachdem sie am Nachmittag geholfen hatten, Holz zu machen, hatten sie beide die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, die Haare waren durcheinander, Odettes Strickjacke schief geknöpft. Daneben, kleiner, die heutige Odette, wie sie gerade ein Klingelschild studierte. Manu musste das Bild heimlich abfotografiert haben.

      »Stößt der Staat hier an Grenzen?«, lautete die reißerische Ansage, der es mehr schlecht als recht gelang, sich als Frage zu tarnen. »Spukschwestern in ganz Österreich aktiv!« Im Blattinneren ging die Story weiter. Odettes und Minnies Archiv, die Tausende Fotos, die sie sich zu Vergleichszwecken ausgedruckt hatten, die Karten und die vielen Zettelchen mit handschriftlichen Notizen, all das war in einer Art aufgenommen, die selbst kritischen Betrachtern nahelegte, dass man es hier mit völlig verpeilten Messies zu tun hatte. Der Ton war suggestiv, die Faktenlage scheinbar stichhaltig, ein Detail passte zum anderen, und am Ende war klar: Hier waren zwei Frauen am Werk, die vielleicht nicht gemeingefährlich waren (immerhin hatten sie ja, wenn auch unbeabsichtigt, zur Aufdeckung eines Verbrechens beigetragen), die sich jedoch seit zartestem Alter beunruhigenden Machenschaften hingaben, die man, ganz besonders in Zeiten steigender Kriminalität, besser im Auge behalten sollte, deren ganzes Handeln und Denken (schizophren?) nachhaltig von einer von verlust- und entbehrungsreichen Kindheit bestimmt war, und die ganz offensichtlich nicht in der Lage waren, Realität und Fiktion voneinander zu unterscheiden. Der Text malte ein Bild von zwei kaputten, ausgegrenzten Geschöpfen, die nach Einbruch der Dämmerung durch verlassene Gebäude schlichen und dabei verzweifelt versuchten, ein Ventil für die Kränkungen, die die Welt ihnen zugefügt hatte, zu finden.

      »Die Schreie des Kindes aus dem Haus in der Scherergasse hört keiner mehr. Auch die Schreie der beiden Frauen in ihrer Kindheit sind ungehört verhallt. Was, wenn Fotos nicht mehr reichen? Wie werden sie sich Gehör verschaffen?«, fragte Manu am Ende des Artikels. Dass alle Beteiligten namentlich genannt waren, verbesserte die Lage auch nicht. Minnie war sprachlos. Odette schüttelte den Kopf. »Schnepfe«, sagte sie, und meinte damit sowohl ihre Schwester als auch Manu.

      Die Mutter rief an, sie weinte. Der Vater rief an, ob Minnie und Odette bewusst sei, wollte er mit kaum beherrschter Aggression wissen, dass die Mutter weine, schon den ganzen Nachmittag, und dass die verdammte Journaille im Garten schon den halben Liebstöckel zertrampelt habe?

      Ihr Chef rief an und meinte, es sei wohl besser, wenn sie, Minnie und Odette, in den nächsten Tagen Urlaub nehmen würden; ohnehin sei zurzeit kaum etwas zu tun.

      Der leitende Ermittler, der die Aussagen der Zwillinge bereits zu Protokoll genommen hatte, rief an und bat die beiden, sich in nächster Zeit »zur Verfügung zu halten«, falls es »neue ermittlungstechnische Erkenntnisse« gebe. Als Minnie ihn befangen nach einem Zusammenhang mit dem Artikel fragte, lachte er. »Ich bitte Sie«, meinte er. »Glauben Sie, ich habe Zeit zum Zeitunglesen?«

      Der Lokalredakteur einer Gratiszeitung, der Lokalredakteur einer Onlinezeitung und der Chronikredakteur der Regionalausgabe einer Tageszeitung riefen an und baten um eine Stellungnahme, ein Interview und eine Fotostrecke. Danach schaltete Minnie ihr Handy aus. Zwar änderte dies nichts an der Tatsache, dass auch ihnen die »verdammte Journaille« bis vor die Wohnungstür rückte, jedoch mit dem Einschreiten des Hausmeisters, eines Mannes alter Schule, der jeden Unbekannten in die Mangel nahm, wurde es etwas ruhiger.

      Odette schien unbewegt. Sie ging nicht an die Tür, würgte eingehende Anrufe ab und spielte die restliche Zeit konzentriert Minecraft. Minnie dachte an Martin, den Klassenkameraden mit der gebrochenen Nase (der mittlerweile verheiratet war, als Gebrauchtwagenhändler arbeitete und auf Facebook wie besessen Made-my-day-Sprüche postete, die sich hauptsächlich um Bier drehten) und hoffte beklommen, dass keiner der Journalisten Odette zu nahe kam. Die Folgen eines Zusammenstoßes (»Gefährliche aggressive Störung: Zwillinge attackieren Passanten« oder »Wollen dafür sorgen, dass niemand sie vergisst: Zwillingen ist jedes Mittel recht«) konnte sie bildlich vor sich sehen.

      In den nächsten Tagen erwachte die Medienlandschaft, die schon bereit gewesen war, zur frühherbstlichen Beschaulichkeitsagenda überzugehen, zu neuer Begeisterung. Die Dame, der Odette vor besagtem Haus ausgewichen war, bevor sie zur Erstbesichtigung schritt, meldete sich gewichtig zu Wort: »Einfach durch mich hindurchgesehen!«

      Odette schnaubte. »Hätte sie halt nicht derart herumgekreischt und Sachen gefragt, die sie nichts angehen.«

      Täglich erfuhren die Schwestern derart viel Neues über sich in der Zeitung, dass Minnie überlegte, ob sie nicht doch ein Gespräch mit einem Journalisten zur Richtigstellung suchen sollte, aber Odette zog nur spöttisch die Augenbrauen hoch. »Also du schon mal sicher nicht«, sagte sie. »Denk nur an deine süße kleine Manu – das Gespräch ging ja wohl voll in die Hosen. Alle Großväter sterben irgendwann, manche Kerle sterben sogar, bevor sie Großväter sind, aber kaum erwähnst du den unseren, stehen wir am nächsten Tag wie komplett entgleiste Tischchenrückerinnen da!«

      Minnie gab sich seufzend geschlagen. Sie ging in der Wohnung umher, vom Fenster zur Tür, zur Küche, zum Fenster, nahm hier eine Tasse mit einem Rest Wasser hoch, dort eine CD, eine Nagelschere, um sie gleich wieder an einer anderen Stelle abzulegen. Sie fiel, kaum dass sie sich hingelegt hatte, in einen bleiernen Schlaf, schreckte wenige Minuten später wieder mit rasendem Herzen und schmerzenden Schulterblättern hoch und konnte anschließend nicht mehr einschlafen. Sie konnte sich nicht dazu aufraffen, morgens zu duschen, sich die Achselhöhlen zu rasieren und stellte fest, dass sie mehrmals nachfragen musste, wenn Odette etwas zu ihr sagte, bis sie den Sinn verstanden hatte. Sie deaktivierte ihr Facebook-Profil, nachdem sie unangenehme Nachrichten von Menschen erhalten hatte, die sie nicht kannte. Anfangs hatte sie noch versucht, sachlich auf die Kommentare zu reagieren, sie hatte einige Fotos von besonders pittoresken Häuschen gepostet und die Frage in den Raum gestellt, was denn nun der große Unterschied sei zu Menschen, die, sagen wir, Hundefotos oder Mode-Selfies knipsten, aber nur Häme und sexuelle Beleidigungen geerntet. Odette, die in den sozialen Medien (was für ein Widerspruch, dachte Minnie immer) nie sonderlich aktiv gewesen war, reagierte auf ähnliche Kommentare indifferent. »Scheißer«, sagte sie und machte einen Screenshot, als jemand seine Ansicht äußerte, solche wie sie gehörten samt ihren Bruchbuden in die Luft gesprengt. Äußerlich unbewegt, meldete sie über- und untergriffige Postings und schickte die Screenshots, mit knappen Worten unterlegt, an die Staatsanwaltschaft. Langsam wendete sich erneut das Blatt, die Schlacht wurde erneut eine andere, und erste Unterstützer meldeten sich. »Ladylike«, ein alternativer Blog mit feministischem Background, rief zur Solidarität mit »Frauen, die unabhängige soziokulturelle Grundlagenforschung betreiben« auf. Die Initiative »gegen.netzhetze« prangerte die Bloßstellung der beiden Schwestern an und forderte vom österreichischen Presserat eine umgehende Stellungnahme zur rufschädigenden Berichterstattung im vorliegenden Fall. Ein smarter Anwalt nutzte die gegenwärtige Stimmung und trug sich (»Nur damit er bekannter wird, der Sack«, meinte Odette) als kostenloser Rechtsvertreter an. Ein junger, unsicherer Mann mit dunklen Dreadlocks und abgekauten Fingernägeln, der an einer, wie er es ausdrückte, Anti-Anthologie über Hasspostings arbeitete, kam zu ihnen nach Hause und hatte sichtliche Schwierigkeiten, seine Augen zumindest manchmal von Odette ab- und den Ausdrucken, die sie vorbereitet hatte, zuzuwenden. Minnie blieb in der Küche, wo sie verwundert den Austausch von privaten Nummern und der königlich-kühlen Zusage ihrer Schwester, mit ihrem neuen, fast schon lächerlich dankbaren Verehrer einmal auf ein Bier zu gehen, mit anhörte. Zum ersten Mal seit mehr als drei Wochen musste sie lächeln. Sie sah sich selbst, wie sie von Odette ein kleines Kind mit nussbraunen Wuschelhaaren entgegennahm, um es zu halten, während dessen Mutter gekonnt eine völlig

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