KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов

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KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Группа авторов

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Pflanzen zum Verkauf gezüchtet. Nach dem neuen BtMG wäre das nicht einmal als Ordnungswidrigkeit geahndet worden.

      Die Küche war voll Kot, Laub und Müll. Auf dem Herd stand eine durchgerostete Pfanne, in dem Sonntagsbraten zubereitet werden sollte. Im Topf daneben war etwas Durchsichtiges eingetrocknet, die letzte Hühnersuppe. Alle Einrichtungsgegenstände waren schmutzig, bedeckt mit einem Schleier aus herrenlosen Spinnennetzen, Staub und etwas Schimmel.

      Überall blätterte der Putz von den Wänden. Die Möbel sammelten all den herumfliegenden Schmutz, ließen aber auch genug übrig, damit der Filter seiner Gasmaske auch etwas zu tun hatte.

      In seinem ehemaligen Zimmer im Obergeschoss waren fast alle Möbel vermodert, denn, wie es aussah, gab es auch mit dem Dach einige Probleme und der Regen fand seinen Weg zu jedem Möbelstück hier oben. Der einzige noch halbwegs erkennbare Gegenstand war sein beleuchteter und gelüfteter Schrank aus dickem Plastik. Die Rohre der Lüftung waren gerostet und wahrscheinlich war die ganze Elektronik auch dahin. Im Schrank fand er noch den Blumentopf mit den vermoderten Pflanzenresten.

      Er dachte an die vielen Himmelskekse, wurde aber vom Funkgerät aus seinen Erinnerungen herausgerissen.

      »Hier ist Krause. Melden Sie sich, Hufnagl!«

      »Hufnagl hier. Sprechen Sie.«

      »Hufnagl, es reicht jetzt. Zurückkommen, aber sofort, sonst gibt es Dresche wegen Gehorsamsverweigerung.«

      »Verstanden, bin unterwegs. Hufnagl aus.«

      Der Bus wartete auf ihn auf dem Hauptplatz des Dorfes. In seiner Abwesenheit haben seine Kameraden eine Geschichte zurechtgezimmert, die in Augsburg auf der Kommandantur als Erklärung für sein Zuspätkommen dienen sollte.

      Jedes Jahr schickte der Bund eine Patrouille in diese Gegend, seit der Forschungsreaktor München II vor etwa zehn Jahren in die Luft gegangen war. Angeblich alles nur Verkettung unglücklicher Umstände, man könne ja nichts dafür und so weiter.

      Im Jahr vor der Katastrophe waren die Krebsneuerkrankungen in Garching und Umgebung (in einer sehr weiten Umgebung) sprunghaft angestiegen. Dann kam jene Julinacht … Kurz vor dem Knall, und noch bevor der Atompilz über Garching erschienen war, hatten mehrere Zeugen berichtet, dass die Isar in der Nacht bläulich leuchtete.

      Nach dem Knall leuchtete eine Zeit lang alles bläulich. Die Explosion fegte Ismaning weg und befreite das Wasser aus dem Speichersee, was wiederum die Teile von München wegfegte, die die Explosion nicht erreichen konnte.

      Eichenau war stehen geblieben. Weder die Explosion, noch das Wasser konnten Eichenau etwas anhaben, der Fallout aber schon. Seitdem wohnten nur einige Flüchtlinge hier, die abgeschoben werden sollten. Sie kamen lieber nach München und Umgebung, um sich vor der Abschiebung zu verstecken. Sie nisteten sich in den leeren Häusern ein und starben kurz darauf einen qualvollen Tot.

      Die Patrouille hat heute keinen einzigen Flüchtling gefunden. Scheinbar haben selbst sie diesen Ort, genannt das Mahnmal der Nuklearen Sicherheit, verlassen.

Fotograf: Sebastian Schwarz

      Leerstand | Johanna Wurzinger

      Das erste Geschäft verkaufte Bücher.

      Das zweite Geschäft verkaufte Haus- und Arbeitsbekleidung. Odettes Blick fiel auf einen gestreiften Morgenmantel aus leichtem Polyester, daneben Nachthemden, in unregelmäßigen Abständen auf einer Stange aufgereiht. Rosa neben Pink neben Gelb neben Weiß, geblümt neben ungemustert, Langarm neben schulterfrei. Daneben Kittelschürzen, ein geblümter blauer Streifen zwischen jeweils einem schmaleren weißen Streifen. Im Hintergrund, nur schwach erkennbar im Halbdunkel des Ladens, Gummistiefel. Hier stimmte etwas nicht.

      Das dritte Geschäft verkaufte gar nichts mehr. Durch das staubige Schaufenster erkannte Odette zwei Reihen leerer Regale, ein drittes Regal, ebenfalls leer, rechtwinkelig dazu, eine Theke, eine verwaiste Kasse. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

      Odette schloss ihren Reißverschluss bis ganz oben, auch wenn er unangenehm am Kinn kratzte, und beschleunigte ihren Schritt. Zwei Querstraßen weiter war sie am Ziel. Sie beobachtete das Haus eine Weile, ging davor auf und ab, wich dann dem schreienden Grün aus, stieg über das morsche Gartentürchen, drückte die Haustür mit der Schulter auf und betrat den ersten Raum. Zwielicht. Sie atmete ein und aus, eins, zwei, drei, dann zog sie die Kamera aus ihrer Tasche und begann zu fotografieren.

      Minnie legte ihr Handy auf den Tisch und kam auf Odette zu. Sie redete. Dass Odette es ihr hätte sagen müssen, dass sie, Minnie, ja noch gar nicht mit dem Bürgermeister gesprochen habe und auch den Namen von der alten Frau noch gar nicht wisse, dass Odette Glück gehabt habe und die Gendarmen sehr entgegenkommend gewesen seien, angesichts der Hysterie der Nachbarin. Odette lächelte und hob eine Schulter. »Dann lass mal sehen«, meinte Minnie, plötzlich entspannt. Sie griff nach der Kamera und klickte durch die Aufnahmen, die Odette gemacht hatte. Es war gespenstisch.

      Dass die Zwillinge eigentlich Klara und Sybille hießen, war kaum jemandem mehr gegenwärtig, am allerwenigsten ihnen selbst. Viel zu früh geboren, nachdem ihre Mutter beim Blumengießen über den Gartenschlauch gestolpert und hart gelandet war, glaubte kaum einer der Spezialisten für Neonatologie an ihr Überleben: zu schwach, zu unterentwickelt, Sybille litt zudem an heftiger Gelbsucht, beide an atemdepressiven Zuständen. Als man sie jedoch auf Wunsch der Mutter, der es, von Schuldgefühlen gepeinigt, das Herz zerriss bei der Vorstellung, dass diese winzigen und unfertigen Wesen nun mutterseelenallein und getrennt voneinander sterben sollten, in einen gemeinsamen Brutkasten verlegte, trat das ein, worauf keiner mehr zu hoffen den Anlass gesehen hatte. Ihr Zustand besserte sich. Die Krankenschwestern beobachteten staunend, die Eltern unendlich dankbar, die Ärzte vorsichtig optimistisch, wie die beiden, schleppend, Gramm für Gramm, zunahmen. Die Ärmchen, anfangs so dick wie der kleine Finger der Mutter, ähnelten bald ihrem Daumen, schließlich dem des Vaters. Die blaurote Haut glättete sich, die Schläuche und Nadeln, die in ihre Nasen, in ihre Kopfhaut führten, wurden nach und nach entfernt, ihr Atem stabilisierte sich. Klara zeigte deutliche Reaktionen, wenn die Mutter, penibel desinfiziert, durch das Loch im Brutkasten mit ihr sprach und sie streichelte. Die Eltern bestanden darauf, die Mädchen gemeinsam nach Hause zu holen, obwohl Sybille gute zehn Tage vor ihrer Schwester hätte entlassen werden können.

      Je größer ihre Mädchen wurden, desto deutlicher wurde der Mutter, dass sie sich von den heiteren Zwillingsszenarien, die sie sich ausgemalt hatte, verabschieden musste. Beide Mädchen waren still und eigenbrötlerisch.

      Klara blätterte, noch bevor sie lesen konnte, wie die lesefaule Mutter stolz bemerkte, in Märchenbüchern und spielte ihre Lieblingsszenen unermüdlich mit Kuscheltieren nach. Sie baute ihnen Nester, fütterte sie mit selbstgekochten Fantasiespeisen und fertigte Wandschmuck für ihre Kartonhäuschen an. Bis weit nach ihrem fünften Geburtstag lutschte sie am Daumen und brach beim geringsten Anlass in Tränen aus.

      Sybille war anders, sie sammelte Knöpfe, Murmeln und kleine Figürchen, die sie stundenlang zu großflächigen, komplizierten Mustern auf dem Kinderzimmerboden anordnete. Das Sprechen lernte sie spät. Die Hauskatze Murli hatte einen Narren an ihr gefressen, und oft sah man die beiden Freundinnen Seite an Seite vor dem Holzstapel in der Sonne sitzen oder konzentriert die laufende Waschmaschine beobachten. Ihre Augen waren klar und scharf, und häufig überraschte sie den Großvater damit, dass sie die Unterschiede bei den Fehlersuchbildern seiner Tageszeitung schneller fand als er. Das Mädchen gerate nach ihm, befand er stolz, das werde einmal eine ausgezeichnete Jägerin, eine ausdauernde und gute Beobachterin und hatte

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