KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов

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KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Группа авторов

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gelbe Natriumdampflicht der Straßenlaternen schimmerte in den gefrorenen Pfützen, an den Bergen aus Schnee und den mit Frost überzogenen Mauern. Es schien ihm, als würde Eiter aus den Eingeweiden der Stadt quellen. Der schwarze Nachthimmel erstickte alles einem Sargdeckel gleich und begrub es im Schnee. Schneeflocken schnitten mit ihrer Kälte in Robespierres Gesicht. Er blinzelte, als er über die Leichen stieg, und trotz aller Mühe schaffte er es nicht, ihnen auszuweichen. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn die gefrorenen Knochen krachend unter ihm brachen. Überall lagen sie – in ihren steifen Kleidern und mit blauen Gesichtern, die Eiszapfen aus Nasen und Lidern ragend – und verschwanden langsam unter dem Schnee.

      Ein Quieken ertönte und Robespierre erstarrte. Was war das gewesen? War es das Pfeifen seiner Lungen? Nein, er hörte es noch mal, ein Keuchen, menschliche Laute, die vor ihm aus dem Schnee drangen. Sein Magen zog sich zusammen. Er zitterte. Zwei blaue Augen starrten ihn aus halb offenen Schlitzen hinter den Gläsern einer Gasmaske an, die langsam, aber rhythmisch immer mehr beschlug. Ein Arm tauchte aus dem Schnee auf und streckte sich, um dann wieder kraftlos zu fallen. Robespierre kniete sich hin, nahm die schlaffe Hand des Überlebenden.

      Dumpfe Silben drangen durch den Filter der Maske. »Ziee … Zaa … Ma …«

      »Sie leben. Oh, mein Gott«, sagte Robespierre und beugte sich vor.

      »Ziek … diii … Mak … die Maske.«

      Robespierre zog sie dem Fremden vom Gesicht.

      Kleine Dampfwolken stiegen auf und verschwanden in der Finsternis. Der Mann unter der Maske war nicht viel älter als Robespierre. Ein dichter, schwarzer Bart, auf dem sich die weißen Flocken niederließen, umrahmte das junge Gesicht, das fast genauso blass war, wie der Schnee drum herum. Die Augenlider und die Wangen hingen gelähmt herunter, nur die brüchigen Lippen bewegten sich kaum merklich.

      »Danke«, wisperte der Überlebende.

      »Sie werden dadurch nur schneller sterben, befürchte ich. Ich meine …« Robespierre hielt inne. Wie kalte Maden durchkroch ihn das Gefühl der Scham und Angst. »Es tut mir leid.«

      »Bischt du … a … ein Geischt?«, fragte der Mann.

      »Nein. Ich glaube nicht.«

      »Hascht du … ein Gegen…mittel?« Die blauen Augen bewegten sich hinter den zufallenden Schlitzen langsam umher, als würden sie versuchen, Robespierre in der Ferne ausfindig zu machen.

      »Nein.«

      »Warum bischt … du dann hier?«

      »Ich bin immun, nehme ich an.«

      Der Sterbende schloss die Augen. Ein letzter Dampfschwaden entwich seinem Mund und löste sich vor Robespierre in Nichts auf.

      »Bleib wach«, rief der junge Mann, aber seine Stimme erstickte im fallenden Schnee. Er packte die Leiche an der Jacke und schüttelte sie, dass die Spucke und das Blut ihm über den Mantel spritzten. »Lass mich nicht allein!« Er ließ die Jacke los und brach in Tränen aus. »Nicht allein. Ich kann das nicht.«

      Die kalte Luft drang tief in seine Lungen ein wie ein Schwert.

      Er schniefte den kalten Rotz in seine taube Nase und zwang seine Knie, ihn dem Himmel entgegenzustemmen.

      Er ging weiter. Er hatte keine andere Wahl, denn zurücksehen konnte er nicht.

      Das rhythmische Knacken des Eises unter ihm war sein einziger Begleiter in der Stille.

      Er kam an den dunklen Schaufenstern der großen Tech-Riesen vorbei. Erschöpft lehnte er sich an einer der gelblich leuchtenden Straßenlaternen an.

      Sein Blick wanderte über die Straße und die lange Reihe an Lichtkreisen, die in der weißen Schneewand verblasste. Wenn die Stromversorgung für die öffentliche Beleuchtung wieder funktionierte, dann waren vielleicht auch die Telefonnetze wieder online. Er bräuchte nur Strom, dann könnte er sein Smartphone aufladen und übers Netz herausfinden, ob es andere Überlebende gab. Nur, wo würde er Strom finden? Er sah an der Straßenlaterne hinab, aber die Stahlabdeckung, die die Anschlüsse verbarg, war mit dicken Schrauben fixiert. Ohne Werkzeug würde er sie nicht öffnen können. Er ließ seinen Blick über den Platz schweifen.

      Vor wenigen Tagen noch hatte die Sonne geschienen, die Menschen waren durch die Straßen geschwärmt. Kleine Kinder hatten lachend gespielt, während ihre Eltern Kaffee tranken. Die Republik hatte erst vor einem Monat den hundertsten Jahrestag ihrer Ausrufung und das dreißigjährige Bestehen des Friedens gefeiert. Die Wirtschaft florierte, die Stimmung war golden, fröhlich, friedlich. Tausende Arbeitslose strömten aus der Allianz, um in der Republik Arbeit zu finden, während in ihrer Heimat die alten Patriarchen zähneknirschend auf ihren Thronen saßen und in Predigten und in den Medien gegen die verkommenen Separatisten gehetzt und vom totalen Krieg geschwärmt hatten. Hohles Politikergerede war es in Robespierres Ohren gewesen, die gleiche alte Propaganda, wie sie seit Jahren in einem fernen, anderen Ort lief. Bis die Bedrohung dann eines Tages schlagartig über den realen Alltag hereingebrochen war.

      Und nun war alles unter meterdicken Schnee vergraben und die Geschäfte wirkten wie hohle Gerippe, jeder Bedeutung und Pracht beraubt. Leichen pflasterten die Straßen und Plätze. Er erinnerte sich noch an den Tag, als es plötzlich mitten im Sommer anfing zu schneien. Es war keine Woche her, und doch schien es ihm wie ein Traum. Er hatte in seinem Zimmer gesessen und Codes für seine Kunden entworfen, als er merkte, wie sich draußen Menschenmengen versammelt hatten und zum Himmel starrten, während vereinzelte Schneeflocken herabrieselten und die Dächer und Autos mit einer dünnen Schicht von Weiß bedeckten. Er war zu ihnen getreten. Die Kinder waren aufgeregt, die Erwachsenen schwiegen verunsichert, die Priester tuschelten. Plötzlich erbrachen sich die Menschen, die Ersten fielen einfach so um.

      Und dann waren die Sirenen losgegangen.

      Viele waren schlagartig gestorben, die anderen flohen in die Bunker. Als sie jedoch erkannt hatten, dass der Tod bereits mit dem Schnee gekommen war und durch die Filter der Belüftungsanlagen drang, waren sie wie Maden aus den maroden Bunkern an die Oberfläche gequollen, um für Heilung zu beten. Gott blieb schweigsam, und so fiel einer nach dem anderen gelähmt in den kalten Morast.

      Nur Robespierre war geblieben. Einsam auf der Suche nach Überlebenden, wartend auf die Truppen des Feindes, die irgendwann einmarschieren würden. Zumindest dachte das Robespierre, denn es wirkte in seinen Augen sinnlos, ein Gebiet zu entvölkern, wenn man nicht plante, es danach einzunehmen. Aber die Panzer und die schwarzen Banner mit dem Roten Kreuz waren nirgendwo zu sehen, nicht einmal Flugzeuge konnte er hören. Alles wirkte dadurch noch leerer. Absoluter Stillstand, absolute Sinnlosigkeit.

      So allein wie Robespierre war, wirkte es, als ob es egal wäre, ob er existierte oder nicht. Niemand nahm ihn wahr und er konnte niemanden wahrnehmen. Er befand sich in einem sozialen Vakuum. Es war fast so, als würde er nicht existieren, in der Schwebe hängen. Er war es als Alleinstehender gewohnt, tagelang allein zu sein, aber das hier war etwas anderes, dieser absolute Mangel an jeglichem Leben um ihn herum. Das Gefühl war fast noch schlimmer als die Kälte; ein flaues, unerträgliches Ziehen durch seinen gesamten Körper und Verstand, als würde er gar nicht wirklich da sein.

      Er gab sich einen Ruck und zwang sich dazu weiterzugehen, den Platz zu überqueren und an den Schaufenstern entlangzulaufen. Er durfte jetzt nicht den Verstand verlieren. Er musste so ruhig bleiben, wie er es bereits in den letzten Tagen gewesen war. Durchhalten, weitermachen, später am Abend etwas weinen, aber nun musste er weitermachen. Es gab in den Gebäuden sicher keinen Strom, aber vielleicht

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