KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte. Группа авторов

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KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Группа авторов

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      In ihrem Abschlussjahr beschäftigte sich Minnie intensiv mit dem Thema Tod. Sie maturierte mit Bestnoten in den Fächern Geschichte, Religion, Psychologie und Philosophie, ließ ansonsten aber zu wünschen übrig. Odette war noch schwächer, rettete sich gegen Jahresende lediglich durch ihre schnelle Merkfähigkeit und wurde dennoch zweimal aus reiner Gefälligkeit versetzt. Faul, urteilten die Lehrer. Unkonzentriert, bleiben weit hinter ihrem Potenzial zurück. Odette bekam eine Betragensnote, nachdem sie einem Klassenkameraden, der ihr auf die Toilette nachgeschlichen war, die Nase gebrochen hatte, indem sie ihn an den Haaren packte und sein Gesicht gegen den Spiegel geschmettert hatte. Die Schulleitung bat die Eltern zu einem Gespräch, diese einigten sich, auf Anzeigen zu verzichten – der Vater des Burschen auf eine wegen Körperverletzung, Odettes Vater wegen sexueller Belästigung.

      Nach der Matura teilten sie sich eine Garçonnière.

      »Ich denke, diese Woche noch, höchstens zwei, dann können wir den Bezirk abschließen«, meinte Minnie später, als sie ihre Mails gecheckt und nochmals, endlos, wie es Odette schien, telefoniert hatte. »Das von gestern würde ich mir aber gern noch mal gesondert ansehen. Das fällt aus dem Rahmen, irgendwie. Oder was meinst du?«

      Odette nickte gedankenverloren. »Auf jeden Fall«, antwortete sie dann.

      Auf die immer seltener werdenden Nachfragen der Verwandtschaft, was sie denn nun eigentlich täten (Capricen!), antworteten die Zwillinge, sie würden stundenweise als Sekretärinnen arbeiten. Von ihrem privaten Projekt, das den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch nahm, erzählten sie nichts. Minnie recherchierte, telefonierte, wertete aus, fasste zusammen und vervollständigte wöchentlich die Karte. Odette fotografierte: verlassene Häuser, leer stehende Häuser, verwaiste Häuser. Einsturzgefährdete Bauernhöfe, aufgelassene Wohnblocks, zwangsgeräumte Nebengebäude, in Vergessenheit geratene Jagdhütten, ausgebrannte Kaufhäuser, in Konkurs gegangene Hotels, seit Jahrzehnten nicht mehr benützte Wochenendhäuschen. Errichtet im vorigen Jahrhundert, im vorvorigen oder erst neulich. Sie gingen methodisch vor, durchforsteten die letzten verwilderten Parzellen in frisch verdichteten ehemaligen Vororten, sie tasteten sich durch Gewerbeparks und hangelten sich durch gottverlassene Dörfer mit seltsamen Namen wie Einöd am Weg oder St. Pankraz in der Gegend. An manchen Stellen ihrer Karte entstanden seltsame Ballungsräume, an anderen war Leere.

      »Das Leben ist eben lebensgefährlich«, hatten die Tanten der zehnjährigen Minnie ins Gesicht gelacht, und »der Tod gehört zum Leben«, hatten die Onkel beschieden. Dass Letzteres den Tatsachen entsprach, bewiesen die Heerscharen alter Frauen, zum Friedhof pilgernd, die zentnerweise gepflanzten pflegeleichten, farbenfrohen Blumen zu ihren Füßen, violett, gelb, weiß.

      Aber die Häuser. »Jedes Haus stirbt anders«, hatte Minnie einmal erklärt. »Manche tun es würdevoll und richtig mit Stil, bleiben stattlich, auch wenn sie nur mehr ein Haufen alter Steine sind, eben weil sie mehr als nur ein Haufen alter Steine sind. Andere wiederum verweigern, die scheinen trotzig zu sagen, egal, ich brauch euch Menschen sowieso nicht, ich denk ja gar nicht dran. Wieder andere entfalten eine Beschaulichkeit, richtig romantisch, die sie früher sicher nicht hatten. Oder eben nicht in diesem Ausmaß. Wie Frauen, die jung gar nicht einmal besonders hübsch sind, im Alter aber mit tausend Falten und weißen Haaren dieses Strahlen bekommen. Ich meine die Häuser, die nur von blühendem Unkraut bewachsen und nur von ganz putzigen Vogerln besiedelt werden und in die garantiert noch nie ein Sandler oder ein Junkie gepisst hat. Verstehst du, was ich meine?«

      Odette hatte genickt.

      »Manche sind traurig, weinen mit jedem Stein den Tagen nach, in denen sie bewohnt waren. Und dann gibt es noch die, die das Alter und die Einsamkeit bösartig macht. Die die ganze Atmosphäre rundherum vergiften mit ihrer bloßen Anwesenheit.«

      Odette hatte zugestimmt; gefühlvolle lange Ansprachen waren nicht ihre Stärke, aber dass sie genauso dachte, zeigten ihre perfekten Fotos: Sie zeigten die Persönlichkeit der ihres einzigen Daseinszweckes beraubten Gebäude, diejenigen überdauernd, denen ihre Existenz gewidmet war, ihre beredte, vollgepferchte Leere. Sie waren geplant worden, gebaut, bezogen. In ihnen waren Mahlzeiten gekocht und gegessen worden, in manchen von ihnen unter Gelächter und Gerede, in manchen bei freudlosem Schweigen; Geschirr war gespült worden, Wasser verschüttet und wieder aufgewischt. Menschen waren gut miteinander ausgekommen oder sich hasserfüllt aus dem Weg gegangen, hatten krank im Bett gelegen, waren geboren worden oder gestorben. Sachen waren zum ersten Mal passiert: der erste Schritt eines Kindes, die erste Post im Briefkasten, der erste Anstrich an der Wand, das erste Feuer im Ofen. Und Sachen waren zum letzten Mal passiert: ein letztes Mal hatte jemand die Toilettenspülung gedrückt, ein letztes Mal hatte sich jemand innerhalb dieser Mauern geliebt, ein letztes Mal das Licht abgedreht, ein letztes Mal jemandem einen guten Morgen gewünscht. Da war der Hof, einst, laut Grundbuch, inmitten Weines und Feldern gelegen, heute direkt an der ekelhaft kurvigen Bundesstraße. Unterhalb des Straßenniveaus, man hätte die Tür nach außen nicht mehr öffnen können, wirkte er klein, verloren, an den Fenstern noch Vorhänge, von einer tüchtigen Hausfrau genäht und aufgehängt. Die Frühstückspension, jedes Zimmer noch ausgestattet mit Radio am Kopfende der Betten, einst der letzte Schrei des Komforts. Sie wirkten überrumpelt, wie jemand, der sich fassungslos fragt, wie das denn hatte passieren können. Da war das Ferienhäuschen, voll lieblicher Details, die saftigen Moospolster, die vom Giebel herableuchteten, die entzückenden Eichhörnchen, die über die Terrasse flitzten. Drinnen eine museumshafte Idylle, ein Wanderstecken an der Wand, ein gestickter Lampenschirm, handbemalte Schnapsgläschen, die nur darauf warteten, aus ihrem Dornröschenschlaf von den Lippen zünftiger Wanderer wachgeküsst zu werden.

      Da waren die vielen bescheidenen Altenteile, gebaut ohne große Erwartungen und ohne große Ansprüche, aber solide. Da waren die leer stehenden Villen, geplant, gebaut, verziert und ausgestattet comme-il-faut, und die nun, verlassen, verwittert, verfärbt, noch immer die Atmosphäre von lautem Gelächter, Pianomusik und der Vorfreude reicher Boudoirs in sich trugen. Da waren die riesigen Fabriken, die ihre Schlote stur in die Luft reckten und statt einer Vielzahl an Arbeitern nun einer Vielzahl an Ratten eine Lebensgrundlage boten. Da waren die vielen unscheinbaren Häuschen, die sich immer ohne die geringsten Variationen wiederholende Geschichte – verstorben – vererbt – verschmäht – erzählten, und denen Minnie aus schierem Mitleid am liebsten jedes Mal mit Putzlappen, Dispersionsfarbe und Besen zu Leibe gerückt wäre. Da war die Reihenhaussiedlung, die in Kürze einer Umgehungsstraße weichen würde: Seite an Seite, die Eternitfassade angegraut, starrten die Häuser angepisst in die Luft. Ihr Innenleben war restlos leer, die ehemaligen Bewohner hatten bei ihrer Übersiedlung alle Habseligkeiten mitgenommen, lediglich an manchen Küchenfenstern leuchteten die Aufkleber mit Fliegengift. »Arschlöcher«, schienen sie zu murmeln, »verdammte Arschlöcher«. Da war die ausgebrannte Fleischerei mit Wohnräumen im Obergeschoss, eines ihrer ersten Häuser. Ob aus versicherungstechnischen Gründen oder aus schlichter Lähmung hatte man einen Gutteil des verkohlten Interieurs so belassen, wie es war, und nur den gröbsten Unrat beseitigt. Die weißen Fliesen waren von einer fettigen schwarzen Schmier überzogen, Möbel und Gebrauchsgegenstände zu einem grausamen Abklatsch ihrer selbst zusammengeschrumpft. In den Betten der Kinder waren noch Reste der Decken, eines von ihnen war bei dem Brand erstickt. Euch krieg ich, giftete das Zimmer.

      Da waren die vielen Hinterlassenschaften: Der Gartenzwerg, der, seine Laterne provokant erhoben, überdauerte, wo einst ein Beet gewesen sein musste. Da war das Gartentor, das, fest eingemauert, ein guter Hinweis darauf war, dass hier einmal ein Zaun gestanden haben musste. Die zwanzig Korbflaschen, die verrieten, dass hier einmal jemand gern ein Glaserl Wein getrunken und wohl immer eine rechte Gaudi gehabt hatte; der Teddy, steif und muffig; die Legion an Öfen: Kachelöfen, Kochherde, Heizkörper, Heizspiralen, Gaskonvektoren.

      Und da war das Haus von gestern. Nummer 978 auf ihrer Liste, weiß, Doppelglasfenster, Mistbeet im Garten, Briefkasten außen am Zaun, erbaut 1948 von einem Franz und einer Helga Reitlbauer, hundertzwei Quadratmeter. Helga, damals bereits achtunddreißig

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