Seeland Schneeland. Mirko Bonné

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Seeland Schneeland - Mirko Bonné

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zum Stadtrand, während er, einfältig, aber ihr Bruder, überlegte, was oder wen sie mit »Was wohl?« meinen könnte.

      War das Mädchen, dessen Stimme er hörte, Regyn?

      Apokalyptische Bilder verfinsterten ihm seit Längerem die Bürowochen. Allein saß er im Kontor, kritzelte Vogelfiguren, von denen er nicht wusste, was sie zu bedeuten hatten, auf unabschließbare Geschäftsbriefe, zerknüllte die Blätter, warf sie ins Zimmer und grübelte, ob es gut war, von einem Einsatz auf einem Panzerkreuzer oder in den Schützengräben an der Marne verschont geblieben zu sein.

      Regyns erster Mann Herman war nach Frankreich verschifft worden und von der Front nie zurückgekehrt. Ihn dagegen hatten bei Kriegsausbruch der Zufall und der Trotz seiner damals siebzehn Jahre ans vergletscherte Ende der Welt geführt. Er war mit Ernest Shackleton auf der Endurance gefahren, im Packeis war der Dampfsegler zerdrückt worden und gesunken, und etwas tief in seinem Innern, das er niemandem je gezeigt hatte, aber das ihn lange hatte begierig sein lassen auf die Weite und die Fremde jenseits von Südwales, war offenbar in der Antarktis geblieben und dort mit ihrer Dreimastbark verloren gegangen.

      Shackletons Ruhm gründete darauf, dass er alle 27 Männer, die 1914 zusammen mit ihm ins ewige Eis aufbrachen, nach 635 Tagen Unauffindbarkeit rettete und zurück in die zivilisierte Welt brachte – wo einige schon nach wenigen Monaten in dem Krieg, der die zivilisierte Welt verheerte, elend zugrunde gingen.

      An Shackletons Ruhm änderte das nichts. Und dennoch beschlich Merce – der erst sein Küchenjunge, dann sein Steward und Adjutant, schließlich sein Assistent gewesen war – immer öfter der Verdacht, dass von seiner in so jungen Jahren in Stücke gegangenen Person nicht alles aus der Antarktis zurückgekehrt war. Irgendein bedeutsames Bauteil seines Gemüts musste im Packeis des Weddellmeers, auf der felsigen Elefanteninsel oder den Gletschern von Südgeorgien zurückgeblieben sein.

      An seinem Kontorzimmerfenster sitzend fragte er sich einmal mehr, was es sein konnte – Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Lebensantrieb, ein Lebensziel? Nur Shackleton war der Lösung dieses Rätsels nahegekommen, und auch bloß einmal. Im vergangenen Jahr hatte Sir Ernest auf einer Vortragsreise Newport besucht und während eines Small Talks an seinem Wagen zu ihm gesagt, er solle nicht vergessen, wer ihn gerettet habe: Niemand habe Merce Blackboro gerettet außer Merce Blackboro selbst.

      Selbst dem ruhmreichen Sir nahm er das nicht ab. Nur dass sie zusammenhielten und nicht aufgaben, hatte ihn und die anderen vor dem sicheren Erfrieren bewahrt – der Rest war eine aberwitzige Aneinanderreihung absurdester Zufälle.

      Er hatte seine Schwester nie danach gefragt, irgendwann aber war er überzeugt gewesen, dass Reg mit ihrem »Was wohl?« in Trelech-a’r-Ryddws nur das Leben gemeint haben konnte.

      Wenn es ein Meer war, dieses Leben – unergründlich, unbeherrschbar, das Reich der Kraken, Seeleoparden und Haie, das gefräßig Schiffe und Küsten verschlang, wie es sich auch selbst verschlang und dabei doch das blieb, was es seit Urzeiten war, der Hort allen Werdens und Vergehens –, dann konnte er in diesem Albtraumatlantik nur ein hundemüder Schwimmer sein. Der Labrador Checker, der durch den Ärmelkanal schwamm, dürfte, als man ihn an einem Strand bei Calais aus dem Wasser zog, nicht so müde gewesen sein. Merce war 24, ein blasser junger Mann ohne besondere Merkmale außer den Narben von Frostbeulen. Er blickte in den Regenhimmel. Er würde eine der ältesten Firmen in einer versinkenden Stadt erben. Er war der letzte Blackboro.

      So wie die Fische in den Flüssen ziehen am Himmel die Wolken dahin, unendlich viele riesig große Wolken, lauter Schwärme aus Wolken, sagt Mommy. Hast du so was schon gesehen?

      Ja, solche unerklärlich lebendig wirkenden Wolkenschwärme hatte er über dem Weddellmeer gesehen und nie mehr vergessen.

      Zwischen den Wolken silbern glänzend tauchte eine Dreipropellermaschine auf und verschwand dann wieder, wie ein Fisch in der Strömung.

      Er habe Liebeskummer, hieß es, und höchstwahrscheinlich stimmte, was seine Mutter und seine Schwester, die Erfahrung in Liebesdingen hatten, behaupteten. Ja, er gab es zu: Er hatte immer nur sie geliebt, das eine Mädchen, das jetzt eine Frau war und mindestens so unglücklich wie er. Kummer, das wusste er, konnte keine Grundlage für das sein, was zwei Menschen miteinander verband, zumal wenn es in Wahrheit eine Schwermut war, der nicht mal er selber über den Weg traute. Keiner in seiner Familie war schwermütig. Warum er? Wieso hörte er dieses Kind?

      2

      Durch dichte graue Wolken stieg die Dreipropellermaschine höher und höher. Lautlos zogen die Wasserdampfschwaden an den Fenstern vorbei, hüllten das Flugzeug ein und staffelten sich unbegreiflich breit, tief und hoch übereinander. Jeden Moment würde das Gewölk auseinanderreißen, den Blick freigeben auf das Himmelsblau, das unverändert darüberliegen musste.

      Doch nichts geschah. Auf Wolken folgten noch mehr Wolken, zwischen ihnen der Dunst verband sie mal lockerer, mal zäher, dann erneut Schwaden, wieder dichte, milchweiße Wolkenbänke, Wolkeninseln, eine Dünung aus langsam auf und nieder wogendem Nebel.

      Sie waren zu dritt in der zwar niedrigen, doch hellen und nicht engen Kabine. Ein Pluspunkt. In den vier Doppelsitzreihen konnte jeder von ihnen an einem Fenster sitzen, und diese Gelegenheit hatte sich keiner entgehen lassen, weder Bryn noch er, und auch die junge Stewardess nicht, die eigens für solche Rundflugtermine mit amerikanischen Kaufinteressenten ausgebildet war, hieß es. Davon, dass das Mädchen ungewohnt nervös sei, hatte kurz vor dem Start der kaum ältere Pilot seine beiden Passagiere in Kenntnis gesetzt, wohl ein lokaler Scherz, denn die übers Flugfeld herbeieilende junge Frau unter dem Regenschirm war zwar etwas außer Atem, doch die Ruhe selbst. In ihrem rosafarbenen Wollmantel erinnerte sie an einen Flamingo, als sie die alberne kleine Gangway heraufhüpfte und Wangenküsse mit dem Piloten tauschte. Unter dem anbrausenden Geknatter der Motoren waren sie zu ihren Sitzen gegangen.

      Sie saß hinter Bryn, und der hagere große Junge mit dem gewinnenden Lächeln hockte vorn in der Kanzel, wo er hingehörte. Robey sah von seiner Sitzreihe aus nur eine Schulter und den Hinterkopf mit der Lederkappe, während vor den Cockpitfenstern der Bugpropeller Wolken zerhäckselte.

      »Irgendwer hier oben muss mächtig Hunger auf Milchsuppe haben«, sagte er hinüber zu Bryn, der mit seinem Bryn-Meeks-Nicken antwortete, devot und ironisch zugleich.

      Er fragte sich, ob Bryn nervös war, ob er selbst es war, und warf einen Blick über die Schulter auf ihre junge Begleiterin. Hinter ihrem Landsmann Meeks zu sitzen schien ihr sympathischer zu sein, weniger riskant jedenfalls. Sie hatte dickes blondes, fast golden schimmerndes Haar, die Frisur einer Kartenabreißerin am Broadway.

      Nein, nervös war sie nicht. Sie sah aus dem Fenster, auf die Wolken, wie Bryn und wie er selbst. Währenddessen achtete er mit allen Fasern seines Körpers auf jedes Klopfen, Surren, Brummen oder noch so leise Klirren, das das Flugzeug von sich gab.

      Sie war stark geschminkt. An einer Wange auf Höhe der Nase glitzerte was. Wahrscheinlich war sie ohne dieses Hautfresko blass. Manchmal lächelte sie, er fragte sich, worüber, als sie sich plötzlich zu ihm wandte und ihn ansah, frontal, mit einem so offenen Blick, wie ihn in ganz Manhattan schon seit Jahren niemand mehr hatte.

      »Alles in Ordnung bei Ihnen, Sir?«, fragte sie und lächelte.

      Die langen Wimpern, die Propeller ihrer Augen.

      Er hob eine Hand zum Dank und sah hinter dem Fenster das durch die Lüfte treibende Watteweiß der Wolke, die sie soeben durchflogen.

      »Und bei Ihnen, Mr. Meeks«, hörte er, »alles in Ordnung?«

      »Irgendwer

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