Seeland Schneeland. Mirko Bonné
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DAS MUSEUM IN DER SKINNER STREET
Hatte er wirklich Liebeskummer, so wie seine Eltern, seine Geschwister und sein Schwager und bester Freund Bakewell behaupteten? Ihm wäre nie eingefallen, seine Traurigkeit so zu nennen. Er liebte Ennid. Vielleicht also hatte er Ennid-Muldoon-Kummer. Doch stärker als der war in jeder Sekunde die Liebe zu ihr.
Wenn er gegen Mitternacht das Licht löschte und sein Kopf auf das Kissen sank, lauschte er noch eine Weile auf die Geräusche des nahen Hafens. Sie drangen durch den schmalen Fensterspalt, aber es dauerte nie lange, bis pochende Stille das ferne Tuten eines Nebelhorns und das Gehämmer von Dockarbeitern überlagerte. Ab da war er allein mit dem Dunkel, allein mit den Gedanken, die ihn an diesem Tag umgetrieben hatten, und nur wenn er die Lider schloss, tanzten noch, wie Schwärme von Tiefseefischen, bunte Bilder an seinen Augen vorüber, so lange, bis er sich auf etwas konzentrierte, das ihren Ansturm abwehrte.
Zwei Zimmer, das eine mit Bett, Stuhl und Schrank, das andere mit Tisch, drei weiteren Stühlen und einer Waschgelegenheit, auf dem Korridor die Abseite mit dem Klosett, das er sich mit seiner Wirtin teilte, die Witwe war und ihm die Wäsche wusch … er hatte diese erste eigene Bleibe von dem Moment an gemocht, seit er letzten Sommer in Pillgwenlly ausgezogen war und Dafydd ihn und seine Habseligkeiten mit einem so riesigen Automobil hier abgesetzt hatte, dass es die ganze Skinner Street verstopfte.
Immer wieder musste er sich klarmachen, dass sie keine Zufälle waren, diese Zimmer, dieses Bett und seit einem halben Jahr des Nachts auch er selber hinter einem Fenster hier, das auf die uralte Gasse hinaussah. Kopfsteinbepflastert, baumlos und farblos bis auf ein verblichenes Wappen überm Hauseingang schräg gegenüber, führte die Straße zum Hafen hinunter. Das Wappen zierte Newports ältesten Pub, der nach Lord Gruffydd ap Rhys hieß, angeblich weil der 1176, als Südwales noch Königreich war und Deheubarth hieß, dort mal übernachtet hatte. Aber »Skinner«? Hatten früher Kürschner in der Straße ihre Werkstatt gehabt, oder war hier ein Abdecker gewesen? Am Ende der Skinner Street, wo sie auf den von Platanen bestandenen Cardigan Place mündete, hatte der alte Muldoon gewohnt und sein Geschäft betrieben, bis der Schiffsausrüster kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe starb. Er hatte in Quiltyn Muldoons Laden dessen Tochter kennengelernt, und im ersten Stock des ganz mit grünen Blechplättchen beschlagenen Hauses oben auf dem Platz, nur einen Steinwurf entfernt, wohnte Ennid noch immer.
Das kleine Mädchen, das er manchmal hörte und das ihm immer wieder überraschend etwas von sich und einer ungewissen Zukunft, von Enttäuschungen, Wünschen und Träumen erzählte – war das Ennid als Kind?
»Mach eine Liste«, sagte er sich, um die herbeischwirrenden Bilder von ihr zu vertreiben. »Sag dir in Gedanken, was du außerdem liebst.« Denn sie konnte jeden Moment durch die Skinner Street gehinkt kommen – sie zog ein Bein leicht nach, jeder zweite Schritt klang verzögert –, noch spätnachts, weil sie Freunde hatte und viel unterwegs war. Schon klappte er im Dunkeln die Lider auf wie ein seit 100 Jahren nicht mehr lebendiger, ebenso wenig aber toter Vampir, vor dessen Fenster die Lichtkegel eines Wagens vorbeistrichen, Indiz dafür, dass ein Mensch aus Fleisch und Blut am Steuer saß.
Eng war es in den zwei Räumen. Die alten Tapeten warfen Blasen, die Durchgangstür ließ sich nicht richtig schließen, und so roch es in Mrs. Splaines Haus beständig leicht muffig, seit Wind und Regen das Lüften verhinderten. Mrs. Cyprian Splaine schien das nicht zu stören. Sie hatte ihren Mann gepflegt, bis er an seinem Zucker zugrunde ging, und teilte sich nun mit ihrer Kartäuserkatze den Rest der Wohnung, in dem ein noch weitaus schlimmerer Geruch herrschte.
Doch gerade diese Enge mochte er an den zwei Zimmern, ja war es nicht sogar so, dass ihm sein Refugium umso besser gefiel, je weniger Platz er darin hatte? Mit kaum mehr als zwei Koffern voller Wäsche, einem Overall und Manchesteranzug, dem Fahrrad, einem Bücherpaket und der Nachttischleuchte, die seinem Schwager Herman gehört und die Regyn ihm überlassen hatte, war er bei Mrs. Splaine eingezogen. An dem zum Möbelwagen umfunktionierten Ungetüm von Cabriolet hatte Dafydd nicht mal das Verdeck öffnen müssen.
In den acht Monaten seither hatten sich die Zimmer gefüllt. Von seinen sonntäglichen Besuchen in Pillgwenlly kehrte er nie mit leeren Händen in seine Bude zurück – obwohl er noch immer über fast jeden Gegenstand, den er aus dem Elternhaus abtransportierte, gleichgültig, wie alt oder winzig das begehrte Objekt war, seiner Mutter Rechenschaft abzulegen hatte. »Wozu das?«, fragte sie, »und für wie lange?« – ehe sich Gwen Blackboro »das Ding aus dem Leib schnitt«, wie sie es nannte, und ihn zähneknirschend damit ziehen ließ.
Für sie lagen seine Motive auf der Hand: Wieso sollte ihr Jüngster die Mumie eines Hirschkäfers mitnehmen wollen, die er als Siebenjähriger bei einem Ausflug an den Ebbw gefunden hatte und die sie seither, als wäre das abscheuliche Insekt ein altägyptischer Skarabäus-Glücksbringer, auf dem Kaminsims aufbewahrte? Wozu brauchte er die Luftpumpe seines Vaters, die nur noch asthmatisch keuchte, und warum das Zelt, das, in lange vergangenen Vorkriegssommernächten im Garten unter der Kastanie aufgebaut, nun so mottenzerfressen war, dass man darin hätte duschen können? Warum, wenn nicht deshalb, weil es nun diese alte Schachtel gab, die ihm – »Ach, Merce, tu doch nicht so!« – vorgaukelte, eine bessere Mutter zu sein.
Im Gegensatz zu seiner Mutter Gwendolyn kam es ihm nie in den Sinn, seine Vermieterin mit ihr zu vergleichen, egal in welcher Hinsicht. Eher verglich er sich selbst mit Agatha Splaines Katze, und das nicht nur wegen ihres Namens. Anders als er wurde Misery von keinem gezwungen, das Haus zu verlassen. Sie schlief täglich 22 Stunden lang. Wollte sie liebkost werden, wurde sie liebkost. Misery war zufrieden mit den Dingen, die sie umgaben, genauso wie mit denen, die sie nicht umgaben – von ihnen wusste sie ja nicht. Verschwand ein Gegenstand oder lag plötzlich irgendwo ein neuer, so staunte sie gleichermaßen oder schien bloß unbeteiligt zu registrieren, dass es etwas weniger zu bestaunen gab.
Nein, Gleichmut war keine seiner ausgeprägten Eigenschaften. Nur sein Staunen war grenzenlos wie Miserys.
Für seine Sammelwut hatte er keine plausible Erklärung. Manchmal war er allerdings überzeugt, dass er den alten Plunder nur deshalb in die Skinner Street schaffte, damit er nachts, wenn er im Bett lag, von Dingen umgeben war, die er auflisten konnte, um nicht an Ennid zu denken.
2 Bücherborde,
57 Bücher, zumeist antarktisch oder poetisch,
6 gerahmte Photographien – Shackleton, Amundsen, die Nimrod, die Fram, die Endurance (aufgenommen von ihrem Expeditionsphotographen Hurley in Buenos Aires), Bakewell und er mit zwei Hunden (Sailor und Shakespeare) vor Packeisgebirgen,
1 alter Holzpropeller – Antrieb der ausgemusterten Sopwith Triplan von William Bishop, mit der Dafydd beim einzigen Flug seines Lebens über Newport und Pillgwenlly gekreist war,
1 mumifizierter Käfer (lucanus cervus),
3 ausgestopfte Seevögel – Möwe, Riesensturmvogel, Skua (der ein Auge fehlte, weshalb er zärtliche Gefühle für sie hegte),
1 Stapel Ansichtskarten, darunter eine von Shackleton, auf der auch Crean unterschrieben hatte, und eine andere – eine Rarität – von Tom Crean allein, beide abgestempelt in Annascaul, wo der Antarktiker, den jeder nur den »Irischen Riesen« nannte, heute einen Pub betrieb,
1 Sicherheitsnadel (diese und vier andere hatten Creans zerfetzte Hose zusammengehalten, als Shackleton, Crean und er selbst nach drei Tagen Fußmarsch über die Gletscher von Südgeorgien zur Stromnesser Walfängerstation gelangt