Seeland Schneeland. Mirko Bonné

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Seeland Schneeland - Mirko Bonné

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da sich außer ihm niemand für die Lektüren von Quiltyn Muldoons humpelnder Tochter interessierte. Ohnehin war ein paar Wochen später, wenn sich Regyn mit Ennid zum Tee oder Spazierengehen traf (»Ist es schon wieder so weit?«, fragte Reg), jedes Buch für ihn viel zu schnell verschwunden.

      Seine Schwester las keine Zeile im Endymion (»Erstickt unter Rosen«, hatte Ennid in das Buch gekritzelt), und Hopkins’ Gedicht »Das Wrack der Deutschland« nötigte Regyn nur ein »blabla, blabla« ab (immerhin jambisch). Dabei war Reg durchaus redegewandt. Um eloquente Ausweichmanöver war seine große Schwester nie verlegen.

      Napoleon Bonaparte!

      Einmal hatte es in Pillgwenlly Streit über Napoleon gegeben.

      Nach einem Nachmittagstee mit Ennid erzählte Regyn, »eine Freundin« behaupte, Bonaparte sei kurz vor seiner Verfrachtung nach St. Helena in Portsmouth gewesen, allerdings könne sie – »die Freundin« – sich nicht entsinnen, von wem sie das gehört, wo sie davon gelesen habe: im Tatler, in der Times?

      Dafydd fand die Vorstellung lachhaft – Napoleon in Hampshire! Eine Erfindung. Was sollte das?

      Ausgerechnet ihr Vater, beileibe kein Franzosenfreund, verteidigte die Geschichte. Emyr Blackboro sagte, auch er habe davon gehört – nur von wem? Vergessen … Er glaube, die Sache sei wahr, egal, wie abwegig die Vorstellung sei.

      Dafydd lachte und wurde wütend. »Dad! Nie und nimmer …!«

      Aber ihr Vater beharrte darauf: »Ich hab davon gehört!«

      Er selbst hatte dazu keine Meinung. Von heißen Schaudern überlaufen, saß er am Tisch, stocherte in seinem Essen, verfolgte wie aus weiter Ferne das Scharmützel und behielt so schuldbewusst wie sehnsuchtsvoll das Wissen für sich, dass er es gewesen war, der Ennid davon erzählte: Bonaparte, perplex in Portsmouth. Sie könne es ihm glauben: Die Fregatte, die den gestürzten Kaiser zu seiner Gefängnisinsel bringen würde, lag für ein paar Tage vor Portsmouth auf Reede. Ob Napoleon britischen Boden betreten hatte? Warum nicht. Gut möglich. Wahrscheinlich!

      Sieben Jahre war es her, dass er sich mit dieser haarsträubenden Geschichte für immer in ihre Erinnerung hatte einschreiben wollen. Und Ennid hatte die Sache offenbar tatsächlich nicht vergessen, sondern nur den Schöpfer des Märchens (das keines war) aus ihrem Gedächtnis getilgt.

      In einem dicken Roman von Henry James, den Ennid Regyn lieh (damit das nächste Buch einstauben konnte), war ein einziges Wort unterstrichen gewesen: »Komplementärmenschen«.

      Wochenlang hatte ihn dieser Ausdruck beschäftigt – zumal Reg ihn einmal zitiert hatte. An einem Sommertag vor vier oder fünf Jahren war die königliche Familie nach Newport gekommen. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um König George, Königin Mary, dem Prinzen von Wales, dessen Schwester und dreien seiner Brüder zuzuwinken, die in einem Automobilkorso nach Caldoen hinausfuhren, wo zu Ehren der Royals eine Flugschau mit neuen Gebrüder-Harper-Maschinen stattfand. Es fehlte nur Prinz John. Der jüngste Königsspross, Epileptiker und Autist, nach Ansicht seiner Geschwister ein Monstrum, die Schande der Familie, hatte wie fast immer in Schloss Sandringham bleiben müssen.

      Regyn begleitete Gonryl und Mari nach Caldoen, während er von seinem Ausguck aus dem Jahrmarkttreiben in den Straßen zusah und keine Lust verspürte, sich dem Rummel auszusetzen. Er dachte an Prinz John und erklärte sich auf diese Weise solidarisch mit ihm. Beschwipst und aufgekratzt holte Reg ihn am Abend im Kontor ab, spöttelnd berichtete sie von Ennids neuestem, einer Brombeere ähnelndem Hut und ihrem jüngsten Spleen: dem Liebesleben der Windsors.

      In Regyns Augen war alles zu ertragen, aber das, über die Intimsphäre des Königspaars herzuziehen – das ging zu weit, es war lachhaft, und es war »shocking«.

      Ennid frage sich ernsthaft, sagte sie, wie der König es angestellt habe, mit der Königin so viele Nachkommen zu zeugen: Wie oft schlief König George mit Königin Mary?

      Ein bohrender Schmerz hatte sich in ihm breitgemacht, eine absurde Eifersucht auf den König, als Reg erzählte, Ennid habe genug von ihrem selbstverordneten Witwendasein und wünsche sich Kinder, viele, mindestens so viele wie Königin Mary.

      Über den Wiesen von Caldoen wurde ein Feuerwerk gezündet, mit Regyn stand er am Fenster, sah den Harper-Doppeldeckern dabei zu, wie sie aufstiegen, über dem Stadtrand kreisten und Kondensstreifenlettern an den abendlichen Himmel schrieben … und da hatte es seine Schwester gesagt.

      »Komplementärmenschen.«

      So weltfremd, so verkopft und verstiegen sie auch sei (»entsetzlich!«) – in einem Punkt habe Ennid recht: Den Kindern gehöre die Zukunft.

      »Vielleicht fliegen dein Sohn und mein Sohn irgendwann mit Raumschiffen zum Mars«, sagte Ennid in Caldoen zu Reg. »Oder sie erforschen unter Glaskuppeln den Meeresgrund. Egal, welche Musik sie hören und wie sie tanzen werden, auch 2021, in 100 Jahren, werden Leute glücklich sein, wenn sie ihrem Komplementärmenschen in die Augen blicken.«

      In dem dunklen Zimmer in der Skinner Street trieb ihm das die Tränen in die Augen. Aller Gedanken müde lag er reglos im Bett. Er horchte auf Mrs. Splaines durch die Wand dringendes Schnarchen, wartete, dass der Ansturm aus Bildern und Wortfetzen weiterging, und er war schon fast eingeschlafen, als ihm etwas einfiel.

      Sogar woran Ennid dachte, wenn sie selbst im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hatte ihm Regyn erzählt – und ihn seiner betrübten Miene wegen ausgelacht: »An dich leider nicht!«

      Ennid versuche vielmehr sich zu erinnern, was sie von ihrem Vater gelernt hatte.

      Dass Regen nie schlecht war.

      Dass zwischen zu faltenden Segeln und zu faltenden Hemden bloß ein Größenunterschied bestand.

      Dass ein namenloses Schiff kein Schiff und ein betrunkener Kapitän kein Kapitän war.

      Ebenso wenig war ein Streit ein Gewitter – nichts entlud sich dadurch, denn wozu führten denn schwarze Gedanken? Einzig zu noch schwärzeren.

      Als ihr Komplementärmensch verstand er das sofort. Streitigkeiten glichen Bränden in Kohleflözen: Das Feuer schwelte im Verborgenen, oft jahrzehntelang (so war es in einem ihrer Bücher angestrichen gewesen). Daher musste man sich von Menschen abwenden, in denen so ein Schwelbrand wütete – sie verzehrten sich selbst. Ennid, sagte Regyn, glaube oft, ein solcher Mensch, der sich verzehrte und in nicht enden wollendem Streit mit sich und dem Leben lag, so einer sei sie selbst.

      Manchmal liege sie wach und versuche sich zu vergegenwärtigen, was sie so lange schon quälte. Hätte sie drei Wünsche frei, sagte sie zu Reg, keiner davon wäre, dass der Schmerz aus ihrem Bein verschwand. Er war ja ein Teil von ihr. Nur dass sie selber bestimmen könnte, wann er kam und ging, würde sie sich wünschen.

      Regyn hatte sie gefragt, was sie sich außerdem wünschen würde, und Ennid antwortete, zuerst würde sie ihre Eltern und Mickie auferstehen lassen. Sie lachte, warf den Kopf in den Nacken (Reg hasste es) und sagte, als drittes würde sie sich neun weitere Wünsche wünschen.

      War sie wirklich, wie ihre Mutter behauptet hatte, eine »Pragmatikerin vor dem Herrn«? Ennid war überzeugt, dass man den wahren Zustand eines Schiffs weder an Deck noch im Maschinenraum oder in den Laderäumen feststellte – nur die Einstellung der Mannschaft verriet, wie es um das Schiff bestellt war.

      Sie war überzeugt, dass man Geld machte, indem man kaufte, und nicht, indem man verkaufte. Und sie war sich sicher, dass immerzu gegen den Strom zu schwimmen zu nichts führte. Man musste

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