Seeland Schneeland. Mirko Bonné

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Seeland Schneeland - Mirko Bonné

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habe an dem Morgen angefangen zu trinken, an dem ihre Mutter nicht mehr aufgewacht war – das einzige Geheimnis, das sie Merce je anvertraute.

      Sie sagte: »Ich bin nicht bloß eine Waise, ich bin auch eine Witwe. Ich bin die Witwe von Mickie Mannock, dem Flieger-Ass, auch wenn er keine Zeit hatte, mich zu heiraten, weil die Deutschen schneller waren und ihn vom Himmel geholt haben.«

      Sie zog eine Grimasse und versuchte ihre tränennassen Augen zu verbergen.

      »Du brauchst dich um mich nicht länger zu bemühen, Merce Blackboro.«

      Das sagte sie an einem Sommertag vor gut anderthalb Jahren zu ihm, am 16. Juli 1919 an genau der Stelle, wo er jetzt wieder stand und hinüberblickte zu dem alten, offenbar niederländischen Frachter, der im Dunkel unter der Transporterbrücke lag.

      Nur er trieb sich zwischen der Kaimauer und den Speicherhäusern herum. Silbern platterte der Regen in den Usk, ein Geräusch, das eine lückenhafte Empfindung in ihm in Gang setzte. So sehr er sich bemühte, so sehr er es sich wünschte, er erinnerte sich nicht, Ennid je nahegekommen zu sein. Selbst auf dem Lehnstuhl im Kontor seines Vaters, als sie auf seinem Schoß saß und er sich fragte, wie sie so leicht sein konnte, war es ihm vorgekommen, als würde sie unter seinen Lippen zerbröckeln.

      Warum konnte er sie da nicht einfach vergessen, so wie man etwas Belangloses oder Beliebiges ohne Scham und schlechtes Gewissen aus dem Gedächtnis strich – einen Mann, der im Bus eingenickt war, ein Kind, das auf einer Mauer saß und etwas aus einer Papiertüte aß, Möwen über dem Ebbw …? Reg hatte recht: Ennid war gefallsüchtig. Sie tat alles, damit man sie nicht vergaß. Manchmal glaubte auch er, dass sie wirklich so herzlos war, wie sie es von sich behauptete.

      Im offenen Roadster nahmen die Verehrer ihrer Freundinnen sie zu Pferderennen und Flugschauen mit. Lachend sah sie ihnen bei Twostep und Foxtrott zu. Aber vielleicht machte ihr Bein ihr mehr zu schaffen, als sie zugab, und womöglich erhob sie deshalb eine Vorstellung von Schönheit zum Ideal, der weder sie genügen konnte noch irgendeine andere junge Frau, die sie kannte.

      Reg als in alles eingeweihte Freundin hatte ihm nicht ohne Lust an seiner Qual von mindestens drei Bekanntschaften erzählt, die Ennid seit Mickies Tod gehabt habe, allesamt Stutzer aus Swansea oder Cardiff, Fabrikantensöhne, Automobilnarren, Sonnenanbeter, bigotte »freaks«. Jeden habe sie nach ein paar Tagen zum Mond geschossen.

      Ennidurance nannte er das Schiff, als es im Packeis eingefroren war.

      Was machte sie in Südengland, mitten im Winter? Sie hatte weder Verwandte noch eine Freundin dort. Sie hatte nirgendwo auf der Welt irgendjemanden.

      Oder hatte sie jemanden kennengelernt?

      Wer lebte in Portsmouth? Entweder holte man in Portsmouth jemanden von einem Überseedampfer ab, oder man ging dort selbst an Bord.

      »Du brauchst dich um mich nicht länger zu bemühen, Merce Blackboro.«

      »Und wenn ich es trotzdem tue?«

      »Wirst du nicht«, hatte sie gesagt und war gegangen, ohne sich anzustrengen, ihr Hinken zu verbergen, und ohne sich noch einmal umzudrehen.

      5

      Unter ihrem Regenschirm stieg sie vorsichtig die kleine Gangway herunter, denn sie hatte, erst jetzt fiel es ihm auf, viel zu hohe Absätze für dieses abscheuliche Wetter. Den rosaroten Wollmantel hatte sie wieder übergezogen, aber nicht zuknöpft, weshalb sie ihn mit einer Faust über der Brust zusammenhielt. Mehrmals, als sie so die Stufen herab- und auf ihn zukam, ohne die Flugplatzlimousine, in der er saß, eines Blickes zu würdigen, wandte sie sich zum Einstieg des Harper-Vogels um, und kaum hatte sie den schlammigen Rasen am Fuß des Treppchens erreicht, erschienen in der Luke der Bubi von Pilot und hinter ihm Bryn.

      Er beobachtete die Szene durch das hintere Seitenfenster des Wagens. Ein absurder Zirkus war das alles. Quecksilberartig rann das Regenwasser an dem Fenster herab, und von seinem Atem und dem des Fahrers beschlugen allmählich die Scheiben, allerdings konnte er sehen, wie sich der Junge dort oben ein Käppi aufsetzte und wie Bryn über die Schulter des Piloten hinweg – er war einen guten Kopf größer – in den Himmel blickte.

      Miss Mari Simms blieb stehen … Er betrachtete ihre Beine und ihren Hintern, die nicht anders konnten, als sich unter dem rosa Textil abzuzeichnen. Sie unterhielt sich mit den beiden, die oben in dem silbern umfassten Einstieg gestikulierten und scherzten, er hörte nicht, worüber sie sich zum Abschied unterhielten – Wales? Den Regen? Den Flug? Ihn? Keine drei Schritte entfernt war ihr Mantelrücken, der sich trotz des aufgespannten Schirms langsam dunkel färbte.

      »Starten Sie die Schüssel«, sagte er zu dem Chauffeur mit dem ausrasierten Nacken. »Und verraten Sie mir, wie ich das Fenster nach unten bekomme. Ich sehe keine Kurbel.«

      »Sie ist versteckt, in dem Griff gleich neben Ihnen«, antwortete der Fahrer. »Klappen Sie den Griff auf. Dann kräftig kurbeln, Sir!« Er hatte einen gurgeligen Akzent.

      Da war die Kurbel. Er kurbelte, und langsam glitt die Scheibe nach unten. Regen kam herein. Durch die silbernen Fäden hindurch sah er zwar Bryn und den Piloten noch immer in der Flugzeugtür stehen und winken, Mari Simms aber war nicht mehr da.

      »Wo ist sie hin?«

      Der Motor sprang an. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

      »Warten Sie, zum Henker! Fahren Sie, wenn ich es sage!«

      Den Kopf hinausgesteckt, sah er sie davongehen. Hin und wieder legte sie einen Tänzelschritt ein und drehte sich dann, lächelnd und winkend, zu Bryn und dem Jungen um.

      »Ich schicke dir ein Taxi!«, rief er zu Meeks hinauf. »Wir treffen uns in zwei Stunden am Bahnhof! Und sprich mit dem Reporter von diesem Käseblatt! Sag ihm … gar nichts! Okay?«

      Der Junge sah Bryn an, Bryn sah den Flieger an. Sie hätten Vater und Sohn sein können, so wie ihnen derselbe hilflose Ausdruck im Gesicht stand. Endlich nickte Meeks.

      Robey hob die Hand zum Gruß, bevor er von Neuem kurbelte und die Scheibe sich schloss.

      Hand, Manschette und Ärmel waren nass, eiskalt. Er fror, und ein Gefühl von Verzweiflung regte sich in ihm. Barsch schüttelte er es ab.

      Was sollte er mit Miss Simms anstellen? Mit ihr essen gehen, ihr erklären, unter welchem Druck er stand, sie nach ihrem Alltag, ihrem Leben fragen, sie nach Haus fahren, sich entschuldigen, sie um der Trophäe ihres Dufts willen zum Abschied küssen und sie einladen – er würde für alles aufkommen: die Bahnfahrt, die Schiffsreise, den Lohnausfall –, zu ihm nach Ventura zu kommen, für zwei, drei Wochen … Zu welchem Zweck?

      Zwei Stunden Begehren lagen vor ihnen, genauso aber bereits hinter ihnen, neu, schön, schal, fad, neulich, kürzlich, heute, grade, gleich, später, morgen, nächsten Monat, nächsten Herbst. Bah. Es war alles schon geschehen. Wo war der Ausweg? In der Wiederholung? Trugschluss aller Don Juan-Dilettanten. Die Frau, die sein Dilemma verstand, war anscheinend noch nicht geboren. Aber konnte sie nicht bitte allmählich zur Welt kommen?

      »Wird er schon schaffen, ist ein zäher Bursche. Mein bester Mann«, sagte er zu dem Chauffeur, der ihn konsterniert im Rückspiegel ansah. »Und jetzt sehen Sie bitte nach vorn. Dort spielt die Musik, und deshalb fahren Sie mich jetzt in die Musik hinein! Umdrehen. Wenden Sie! Die Kutsche hat doch eine Lenkung, ja? Dann los. Dort vorn im Matsch die junge Lady ganz in Rosa, sammeln Sie sie ein, bevor sie sich den Tod holt. Sie kennen sie?«

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