Seeland Schneeland. Mirko Bonné
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Читать онлайн книгу Seeland Schneeland - Mirko Bonné страница 13
»Sweetie, komm her, setz dich hin.«
Sie wandte ihm das Gesicht zu, sah erneut Ennid an und tigerte schließlich hinüber, wo sie sich an die Schulter ihrer Mutter schmiegte. »Noch lange durchbohrte mich die Kleine mit Blicken«, schrieb sie Regyn. »Du glaubst ja nicht was für Augen sie hatte. Man konnte da nicht lange hingucken …«
Aus Langeweile legte sie Lippenstift auf und untersuchte ihr Gesicht in dem Taschenspiegel. Sie dachte an ihre Mutter. Sie dachte, dass Bixby ein komischer Name für so ein kleines Mädchen war, aber dann vergaß sie das Kind wieder.
Zweimal erfüllte Lärm die Abfertigungshalle. Die Türen flogen auf, und herein strömten erst Dutzende, schließlich Hunderte anderer fremder Leute und rissen alle aus dem Schlaf. Die Neuankömmlinge quetschten sich in die Lücken auf den Bänken. Wer keinen Platz mehr ergattern konnte, errichtete für ein paar Stunden sein Lager zwischen herbeigezerrten Koffern auf dem Zementboden. Aus der Nachbarhalle war das Zischen und Keuchen der Lokomotiven zu hören, die lauter vollbesetzte, vollgestopfte Waggons durch die Nacht bis nach Portsmouth gezogen hatten, Männer, Frauen, Alte und Kinder, »alle grau wie Nagetiere vor denen es mir grauste«, schrieb sie. »Am liebsten wäre ich davongelaufen weil ich nicht sein wollte wie die.«
Dann sagte sie sich, dass sie anders war. Ein ganzes Leben lag hinter ihr, aber es lag auch ein neues vor ihr. Sie war jung. Sie war belesen. Und trotz ihrer Beinschiene war sie reizend und begehrenswert. Jeder Mann in der Halle, der allein war, hätte sie gern gefragt, wie sie hieß und wohin sie wollte in Amerika, und dabei wie der Mann mit dem Kamelhaarmantel auf ihre Lippen gestarrt.
Sie hieß Ennid Anjelica Muldoon, sie war die Tochter und die Erbin des ältesten Schiffsausrüsters von Südwales. »Casnewydd« hieß Newport auf Walisisch, und genau das – Casnewydd – war auf dem Heckspiegel des 80-Kanonen-Batterieschiffes zu lesen, das ihr Urgroßvater im Jahr 1773 ausgerüstet hatte. Vielleicht war sie jetzt eine Waise, ein armes Ding war sie jedenfalls nicht. Sie brauchte keinen, der ihr eine leuchtende Zukunft versprach. Weil sie fast zehn Jahre lang an der Seite ihres Vaters alles gelernt und weil ihre Eltern für sie vorgesorgt hatten, besaß sie genug Geld, um sich aus eigener Kraft auch in der Fremde ein neues Leben aufzubauen. Sie würde genau das in Amerika versuchen, zumindest bis sie ihren Kummer vergessen und die Trauer über Mickies Tod und den Tod ihrer Eltern verwunden hatte.
Kaum war die Halle wieder zur Ruhe gekommen – und auch das mausgraue Mädchen endlich eingeschlafen –, nahm sie Papier und Federhalter aus der Tasche und fing an zu schreiben.
»Meine liebe brave herzensgute Regyn! Stell dir vor was ich vorhab«, schrieb sie hastig, mit einem Mal erfüllt von Panik, nicht rechtzeitig fertig zu sein, um den Brief einem Schaffner, einem Matrosen oder wem immer geben zu können, der ihn abschickte nach Casnewydd, nach Newport. »Ich habs wahrgemacht u. sitze tatsächlich umzingelt von lauter schnarchenden Fremden im Einschiffungsbahnhof von Portsmouth. In ein paar Stunden legt mein Dampfer ab nach Amerika u. ob ich je zurück komme weiß ich nicht. Oder doch: zu Besuch u. um vor euch anzugeben – mit Nerz, an den Händen 2 Kinder (mindestens) u. hinter mir meinen Gatten der die Koffer trägt! U. den ich hoffentlich wenigstens ein bisschen so liebhabe wie Mickie …«
7
TRIBUNAL
Sein Bruder war vielleicht acht gewesen und er sechs, als einen ganzen Sommer lang vom Vertiko ihrer Mutter Woche für Woche immer zwei Apfelsinen verschwanden. Zwei neue wurden dazugelegt, doch schon wenige Tage später fehlten erneut zwei.
Gwendolyn Blackboros auch damals schon betagte Zugehfrau Miss Ings, die zweimal die Woche kam, wusste von nichts, stritt jede Beteiligung ab und bezichtigte stattdessen die beiden Jungs. Dafydd und Merce hielten zunächst zusammen, verdächtigten einander dann gegenseitig, und Regyn gab sich empört – bekam Schnappatmung und rannte aus dem Zimmer –, als ihr Vater sie fragte, ihr nachrief, ob sie, unter Umständen, »nun sag schon, sweetheart, hast du, ich meine, rein zufäll…«
Aber der Apfelsinendieb konnte nicht ermittelt werden. Keiner wollte es gewesen sein, und was das Seltsamste war: Weder das Wegschließen des Obstes im Schrank noch das Verschließen, ja Verbarrikadieren des Esszimmers verhinderte die Fortsetzung des Mundraubs. Spurlos lösten sich Südfrüchte im Haus Blackboro in Luft auf, und nie, niemals wurde auch nur ein Fitzelchen Schale gefunden.
Das Apfelsinenmysterium hatte das erste Familiengericht nach sich gezogen, ein Tribunal, das zwar keinen Täter überführte, das jedoch seither mit schöner Regelmäßigkeit im Esszimmer zusammentrat, sobald es im Haus Unstimmigkeiten gab. Der Räuber gab sich zwar nie zu erkennen, aber alle wussten, dass er – oder sie! – einer – oder eine! – von ihnen sein musste, verschwand doch seit Einsetzung des Tribunals keine einzige von Argusaugen bewachte Apfelsine mehr aus der blauen Schale auf dem Früchte vertilgenden Vertiko.
Reg hatte Herman noch nicht gekannt, 16 war sie gewesen, als ihr Vater sie in der Florentine Road in flagranti dabei ertappte, wie sie sich am helllichten Tag von einem Fremden auf den Mund (sie sagte: Mundwinkel) küssen ließ – in der zugeknöpften Zeit vor dem Krieg nicht bloß unschicklich, sondern eine absolute Unmöglichkeit.
Der Fremde, stellte sich heraus, war ein Matrose (»immerhin«), war weder Waliser noch (»lobet den Herrn!«) Engländer. Er verschwand wieder, wie er gekommen war, nahm seine Herkunft und seinen Namen mit, und doch brauchte Regyn zwei volle Jahre, um ihn zu vergessen.
Sie hatte ihn nie wiedergesehen.
Im selben Sommer – dem »Sommer des Kusses in der Florentine Road« – brannten Dafydd und Merce von zu Hause durch. Sie liefen auf den Gleisen fast bis Lydney, sprangen mehrfach erst beiseite, kurz bevor die Lok vorbeiraste, und schliefen in einer aufgegebenen Weichenstellerbaracke. Nach zwei Tagen kamen sie spät am Abend zerschunden zurück nach Pillgwenlly, wo unverzüglich das Gericht zusammentrat. Nie wieder schmeckte Merce ein Abendbrot so köstlich wie die Henkersmahlzeit, die Miss Ings damals Dafydd und ihm auftischte.
Seit den Apfelsinen war die Rolle des Richters in Familienauseinandersetzungen stets seiner Mutter zugefallen. Gwen Blackboro lagen selbstherrliche Urteile fern, nach ihrer Überzeugung bestrafte einen Missetäter das Leben. Jedoch musste den Kindern auf deren verblendeter Suche nach dem richtigen Weg geholfen werden. Ob es um das Durchbrennen ihrer Söhne ging, deren gedankenloses Katz-und-Maus-Spiel mit herandonnernden Lokomotiven oder, kaum weniger gravierend, einen Kuss ihrer halbwüchsigen Tochter vor aller Welt Augen – in einem Gewirr aus in die Irre führenden Wegen mussten die Kinder den einen, zwar steinigen, aber einzig richtigen Weg finden, den keiner kannte außer der liebe Herrgott und, zum Glück, sie, ihre selbstlose Mutter.
Anschuldigungen führten in ihren Augen zu gar nichts. Das sah ihre Tochter, inzwischen selbst Mutter, anders. Regyn deutete das Verhalten ihres kleinen Bruders nach dem neuesten, im Tatler ja breit diskutierten Trend psychologisch, sie sah darin eine verirrte Selbstverliebtheit, eine »narzisstische, selbstzerstörerische Manie«. Den Namen der Person, die ihr Bruder irrigerweise anhimmelte, den Namen ihrer Freundin nahm sie nicht in den Mund.
Dafydd dagegen sah seinen Bruder vor allem als Opfer. Er jage einem hinkenden Phantom nach, das nach Amerika ausgewandert sei, hoffentlich für immer.
»Merce!«, schien Dafydd zu rufen, »Bruderherz, komm zu dir … komm zurück auf den Boden der Tatsachen!«
Die Ankläger, die die Höchststrafe für Merce Blackboro forderten (Herzausreißen), waren also seine älteren Geschwister, ein Duo, gegen das der Pflichtverteidiger des Delinquenten, ein erschöpfter, gütiger Herr