Seeland Schneeland. Mirko Bonné
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Читать онлайн книгу Seeland Schneeland - Mirko Bonné страница 10
Reg schloss die Tür. Sie habe einen Brief bekommen, sagte sie ernst, als sie allein waren. Sie flüsterte und sah ihn mit besorgtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen an. Von Ennid.
»Hatte noch nicht die Zeit, ihn zu lesen, aber … Wusstest du, dass sie verreist ist?«
Schlagartig wurde ihm heiß. Der kalte Schweiß der Überrumpelung brach ihm aus.
»Verreist wohin?«, fragte er möglichst unbeteiligt und blätterte dabei in unsinnigen Papieren, die wie Willies Zeichnung mit Zahlen übersät waren.
»Aufgegeben hat sie ihn in Portsmouth.« Reg zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, das interessiert dich – wohl ein Irrtum.«
Sie klopfte sich etwas Unsichtbares von dem Gabardinemantel, den ihr Bakewell von seiner letzten Geschäftsreise mitgebracht hatte, dann öffnete sie die Tür und setzte ihren Hut auf. Es war ein kleiner, grauer, vom Regen dunkel gesprenkelter Hut.
»Umso besser«, sagte sie entäuscht. »Muss los.«
Aus dem Flur war das glucksende Gelächter des Jungen zu hören, offenbar wurde er von seinem Opa durchgekitzelt.
»William-Merce Bakewell, sofort stehst du vom Boden auf! Dad, du sollst dich schonen! Die Sachen, die der Kleine anhat, Gott, liebe Miss Nettleship, wissen Sie, wie teu…«
Damit ging die Tür zu. Den Rest hatte er nicht gehört. Er hatte sich die Ohren zugehalten und, als erneut Stille eingekehrt war, weiter aus dem Fenster gesehen.
Weder auf der Corn Street noch dem Kingsway sah man einen Menschen, und das Theater war dunkel, obwohl für den Abend eine Aufführung auf dem Programm stand.
Er ging weiter. Aber nichts mehr zog ihn jetzt in seine Zimmer, wo nur die Stille, das Dunkel und Mrs. Splaines Katze ihn erwarteten.
»Was man liebt, versucht dem Betrachter zu entkommen«, sagte Shackleton einmal, das war ihm nie aus dem Kopf gegangen.
Um sich zu erholen, lasse das Auge kurz ab von bewunderten, bewegungslos erscheinenden Gegenständen. Suche es diese von Neuem, finde sie das Auge so verblüffend weit weg, als hätten sie den unbedachten Moment genutzt, um mit einem Satz eine riesige Entfernung zu überwinden … Ob Sir Ernest das angesichts der Shag Rocks oder beim Anblick eines Eisbergs sagte, wusste er nicht mehr.
Der Regen floss wie an schrägen Fäden vom Himmel. Es regnete und regnete, und die Wolken, aus denen es so schüttete, sahen aus, als wären sie immer dieselben.
Ohne zu wissen, worauf, schien alles zu warten und stillzustehen.
Wie Ennid da hatte verreisen können, war ihm ein Rätsel.
Miteinander wirklich zu reden, schon das war eine fast unlösbare Aufgabe. Wie sollte man da erst mit den Dingen ins Gespräch kommen?
In grüblerische Selbstgespräche versunken, lief er kreuz und quer durch die Stadt. Nirgends traf er einen Menschen, mit dem er hätte reden mögen. Stattdessen klapperte er die Orte ab, die er mit Ennid verband, zum Beispiel am Ebbw-Ufer die Bank, auf der sie manchmal mit Mari saß und Fish and Chips aß.
Vielleicht wäre es mutig gewesen, zu ihr zu gehen und es ihr ins Gesicht zu sagen: »Ennid, geh nicht weg.« Besuchte sie jemanden in Portsmouth? Er hatte daran seine Zweifel, bloß ein ungutes Gefühl im Grunde, wahrscheinlich nichts als Verlustangst. Der Gedanke, Newport zu verlassen, war ihm nie gekommen. Wo alles stillstand, war wegzugehen da nicht zwecklos?
Sieben Jahre war es her, dass er im Kontorzimmer seines Vaters, das jetzt seines war, mit ihr geschlafen hatte – wenn man es so nennen konnte.
Es war schnell gegangen.
Sie waren noch halbe Kinder gewesen und hatten sich in den Wochen ihrer Verliebtheit immer wieder auch gestritten wie Kinder.
Er erinnerte sich an ihren Taschenspiegel. Sie hatte sich geschminkt und darin betrachtet. Sie setzte sich auf seinen Schoß und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich mag dich wirklich sehr.«
Er spürte ihre Hüften, ihre Beckenknochen, und ihr Kinn war dicht vor seinen Augen. Immer schneller wanderte ihr Gesicht, aus dem der Duft drang wie ein Licht, auf und ab vor seinen Augen, bis es auf einmal stillstand und genau vor seinem ihr Mund aufging.
Leise, dunkel keuchte sie: »Ja!«
Diesen dunklen, warmen Ton hörte er seither in jedem Ja, egal, wer es sagte.
Er spürte, wie sie sich tief im Innern anfühlte, die Hitze, die nicht nach außen drang, die Weichheit, ihren Geruch, etwas Tierisches, zugleich unbedingt Sanftes, nie zu Bändigendes, unfassbar Freies.
Sie hatte aus ihrer Handtasche, die wirklich kaum größer war als eine Hand, ihren Spiegel geholt, ihn fallen lassen, er hatte ihn aufgehoben und ihr gegeben, ein verblüffend winziges Ding, ein lila eingefasstes Spiegelchen. Es schien ihr sehr wichtig zu sein.
Bei diesem einen Mal war es geblieben.
Kein Wort hatten sie je darüber verloren.
Tags darauf ging er an Bord.
Und gleich sein allererstes Schiff, die John London, erwies sich als Seelenverkäufer und sank in einem schweren Sturm vor Uruguay. Er war siebzehn, und gerade war der Krieg ausgebrochen, der vier Jahre dauern sollte.
Währenddessen fuhr er an Montevideo vorbei den Rio de la Plata hinauf und freundete sich in Buenos Aires mit dem amerikanischen Matrosen William Bakewell an, der heute sein Schwager war.
Der Krieg kam übers Meer, und so beschloss er, nicht nach Newport zurückzukehren, sondern mit Shackleton auf der Endurance in die Antarktis zu fahren. Er stahl sich an Bord, wurde erst auf hoher See entdeckt … Und als er zwei Jahre später heimkam, hatten Wales und die Welt sich verändert, wie er sich verändert hatte. Ennid erkannte ihn nicht mal wieder mit seinem Bart, den er auch selbst nicht leiden konnte, doch der immerhin die Narben des Frosts auf der Elefanteninsel verdeckte.
Sie hatte sich in einen Anderen verliebt – einen Flieger, der seinen Dreidecker nach ihr benannte und mit der Fliegenden Ennid abgeschossen wurde. Um ihn vor Mickie Mannocks Schicksal zu bewahren, setzte seine Familie alles daran, dass man den jüngsten Blackboro für untauglich erklärte, und durch Ausdauer und Beziehungen und vielleicht auch, weil er ein Taugenichts, jedenfalls untauglich in vieler Hinsicht war, gelang das schließlich.
So ging er weder nach Merthyr Tydfil in die Fliegerkaserne wie Dafydd, der das Glück hatte, dort bleiben zu können, noch nach Ypern oder Verdun wie Herman, der wie jeder dritte junge Newporter von den Schützengräben auf dem Festland nicht mehr zurückkam.
Drei Jahre lang bildete ihn sein Vater zum Kaufmann aus und machte ihn zu seinem Prokuristen, einem merkwürdigen allerdings, der Zahlen nichts abgewann und auf Rechnungen kryptische Listen kritzelte oder Blumen malte. Nie wieder verspürte er Sehnsucht nach einem Schiff, dem Wind oder der weiten See.
Ihre Väter hatten 40 Jahre lang Geschäfte miteinander gemacht und gemeinsam Schiffe ausgerüstet und eingerichtet, bis Quiltyn Muldoon gestorben war, überraschend für viele, für Ennid jedoch nicht. Ihr Vater sei von der Seuche