Seeland Schneeland. Mirko Bonné
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Sie erzählte Regyn, was sie liebte: Möwen, je größer, desto besser. Ihr Geschrei klang wie das Quietschen von Türen, mit denen sich die Ferne auftat. Sie liebte das Jaulen der Pontons, das von den Werften herüberdrang. Und Bücher, besonders Gedichte und Romane über den Wind und die See, Shelleys »Ode an den Westwind«, Conrads Lord Jim, am meisten aber Moby-Dick (zwei Monate lang rührte Reg das Buch nicht an), auch deshalb, weil das einzige weibliche Geschöpf darin Ahabs Schiff war, die Pequod, die alle über das Meer trug und zu allerletzt besiegt wurde von dem von Herman Melville erfundenen weißen Wal.
»Für sie lebt alles, was sie da liest«, sagte Regyn halb spöttisch, halb bewundernd und zuckte mit den Achseln.
Doch ebenso sehr mochte sie es, wenn es still war im Hafen, wenn die Stahlpontons nicht sangen und keine Möwengeschwader auf Beutezug über den Usk und den Severn zogen. Bücher, die ihr nicht gefielen, legte sie weg und rührte sie nicht wieder an. Auch von Büchern sollte man sich keine Unverschämtheit gefallen lassen! Und Dummheit war unverschämt, wenn man nichts dagegen unternahm.
Wann immer möglich, laufe sie barfuß, sagte sie zu Reg eines Sonntags am Ebbw, umgeben von Spaziergängern (von denen sie viele Leute kannten, seit sie auf der Welt waren), und zog Stiefel und Strümpfe aus, obwohl schon fast November war und jeder ihre Beinschiene sehen konnte.
Und einmal sagte sie, dass sie manchmal wegrennen wolle vor lauter Zorn und Kummer, vor dieser Angst, die keinen Namen hatte. Weg, einfach nur weg wolle sie dann, und nie mehr wiederkommen.
4
MÖWEN ÜBER DEM EBBW
Unter dem Regenschirm eilte sie übers Kopfsteinpflaster die Skinner Street hinunter und zog dabei ihr Bein nach wie einen Hund, der sich an ihr festklammerte. Oder sie fuhr an der Seite eines jungen Kerls, den er nicht kannte, in einem Speedster an ihm vorbei. Ihr Sommerhut, den sie ab und zu noch immer aufhatte, sah wirklich wie eine Brombeere aus, wenn auch eine sehr große.
Ein Morgen, an dem er sie zufällig sah, war ein im Keim erstickter, im Voraus vergeudeter Tag. Wenn er an so einem verlorenen Morgen im Kontor saß und über Papiergebirge hinweg aus dem Fenster starrte, fiel sein Blick auf die Reihe halb fertiggestellter Bauten gegenüber. Junge Spekulanten in Knickerbockern und Gamaschen hatten seinem Vater und anderen Stadtvätern weisgemacht, für Newport sei es an der Zeit, Cardiff den Rang abzulaufen. Ihre Duesenbergs und Pierce-Arrows kurvten durch den Morast der abgetragenen Victoria-Docks. Meterhoch spritzte der nach Öl stinkende Schlick weg hinter den aufjaulenden Automobilen, denen eine sumpfungeheuerartige Meute Kinder nachjagte.
Seit Kriegsende war überall im Hafen gebaut worden. In den eisigen Regengüssen rotteten die Rohbauten vor sich hin. Zuletzt hatte er Anfang November ein paar Maurerlehrlinge auf den Gerüsten gesehen – Mörtel verstreichend in blinden Fenstern, noch scheibenlosen, Mäulern gleichenden Löchern. Geisterhaftes Dunkel lag dort, wo längst erhellte Zimmer hätten sein sollen, für Sekretärinnen hinter Schreibmaschinen, Schreiber und Prokuristen, wie er selber einer war, Menschen an polierten Tischen voller Rechnungen, Listen und stapelweise unbeantworteten Briefe neben unverständlichen Geräten.
Wenn er so in diese Tristesse blickte, hörte er sie zumeist – die Stimme. Unvermittelt hob das Mädchen zu sprechen an, womöglich um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Erfand er das Kind, um seine Niedergeschlagenheit ertragen zu können?
Da, wo wir hingehen, wollen wir ein besseres Leben haben. Wir wollen nicht mehr nur durch alles durchgucken, sondern wieder anfangen zu sehen. Und miteinander und mit allen Dingen irgendwie wieder reden!
»Und wie soll das gehen?«, fragte er, weniger aus wirklichem Interesse denn aus Neugier, ob das Mädchen etwas erwiderte.
Aber wie erwartet kam keine Antwort.
Wenn er am frühen Abend im Regen durch die Dunkelheit nach Hause ging, waren die Kaianlagen übersät mit Sacktüchern. Wie tote Ratten nach einer ausgestandenen Seuche lagen sie auf dem nassen Pflaster, das im Gaslaternenlicht glänzte. Und wenn er dann den Kopf hob und unter dem Schirm hervor ein letztes Mal hinauf zu den Gerüsten sah, schienen ihm die Neubauten bereits den Schatten ihrer Zerstörung vorauszuwerfen.
Kein Leben würde je in das Kontorhausviertel einkehren und daher auch nie eines in die Gebäude zurückkehren. Erinnerung bewahrte nichts Lebendiges, wie Ennid glaubte. Erinnerung nannte man die tröstliche Beschönigung der Vergänglichkeit. Die Häuser waren wie er, leer und verlassen, egal, wie lange schon oder wie lange noch. Für ihn waren sie ein steinernes Menetekel, und wohl deshalb hatte er irgendwann in diesem Winter eingesehen, dass sie nicht einfach hässlich waren, sondern gerade aufgrund ihrer abscheulichen Sinnlosigkeit irgendwie auch liebenswert.
Jeder musste etwas lieben, da bildete nicht mal er eine Ausnahme. Wer von keinem geliebt wurde, den liebten die Gegenstände. Auf ihre stumme, eigenbrötlerische Weise erwiderten sie die ihnen entgegengebrachte Zuneigung. So war der Blumen- und Kräutergarten in Pillgwenlly nicht nur deshalb eine Pracht, weil ihn seine Mutter neun Monate im Jahr hegte. Schönheit war eine Antwort. Die Endurance und das Packeis waren gütig zu ihm und den 27 anderen Antarktikern gewesen. Die Gegenstände fragten nicht nach wer, wie lang, wie sehr, warum.
An manchen Tagen blieb er morgens nur deshalb nicht liegen und schlief einfach weiter, weil die Kontorbauten mit ihren Fenstermäulern ihn zu rufen schienen. Sie standen im Regen, und dessen Prasseln war kalt, als käme es von den seit Oktober unsichtbaren Sternen. Hinaufzublicken zu den dunklen Baugerüsten tröstete ihn. Es machte ihn wehmütig, aber die Wehmut erfüllte ihn immerhin, sodass sein Leeregefühl verschwand und er meinte, auch selbst noch nicht fertiggestellt zu sein. Wenn er eines der Löcher fixierte, während er so auf dem Fensterbrett saß und hinübersah zu Ruinen, aus denen um ein Haar Häuser geworden wären, wurde er manchmal seltsam ruhig. Dann glaubte er, sie spüren zu können … Mit einem Mal war sie zurück und spielte es keine Rolle mehr, wie viel Zeit vergangen war, seit Ennid ihn ein einziges Mal in diesem Kontorzimmer besucht hatte.
Unter dem Schirm in den Mantel gehüllt, lief er durch die Corn Street, überquerte den Kingsway und kam am City Theatre vorbei, wo laut einem Banner überm Eingang Medea gegeben wurde. Hatte Ennid das Stück gelesen? Regyn ausgeliehen hatte sie es nicht. Wenn sie die Inszenierung gesehen hatte, dann mit keiner ihrer Freundinnen. Wieso war er in sieben Jahren nie im Theater mit ihr gewesen?
Sie las in letzter Zeit viel Tolstoi. Hatte der auch für die Bühne geschrieben? Die Traurigkeit kroch ihm durch die Brust. Er stellte sich unter den Portikus, wo es trocken war, und schüttelte den Schirm aus. Auf den Steinfliesen bildeten die Regenspritzer ein Muster, das einem schwarzen Sternbild glich. Willie-Merce hatte ihm erst vor ein paar Stunden ein ganz ähnliches Bild gezeichnet.
Reg war ins Kontor gekommen und bat ihn und die beiden Sekretärinnen, eine Stunde auf den Kleinen aufzupassen, damit sie ihren Vater zu einem Arzttermin begleiten konnte.
Sein Neffe war seit Kurzem sechs. Er war ein schmächtiger Junge mit weichem, stumpf blondem Haar, der nicht viel sagte, wie sein Vater Herman aber die Phantasie eines Konstrukteurs oder Ingenieurs besaß. Ab und zu glitt Willie reptilartig von dem Ohrensessel, in dem er zusammengesunken saß und zeichnete, dann wirkte er überrascht, schien sich zu fragen, wo er war, rappelte sich auf, kam zum Schreibtisch und hielt seinem Onkel sein jüngstes Buntstiftbild hin.
Ein Urwald war darauf zu sehen, in dem sich ein Löwe mit einer Krone auf dem Kopf versteckte. Willie hatte die Krone aus Ziffern gemalt, und auch der Dschungel, die Bäume, Lianen und Schlingpflanzen bestanden aus kunterbunten Zahlen, die überall in die Höhe wuchsen und von überall herabhingen. Der Himmel auf dem Bild war weiß und voller schwarzer Sternbilder.
Sogar Regyn, die nicht viel bewunderte,