Seeland Schneeland. Mirko Bonné

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Seeland Schneeland - Mirko Bonné

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Fahrradluftpumpe (Dads), inzwischen repariert,

      1 Stück eines Wirbelknochens, faustgroß, Wal (Blauwal), mitgenommen aus Stromness,

      1 Speerspitze, vielleicht indianisch (bestimmt indianisch), gefunden in einem Straßengraben von Valparaiso,

      1 alter Seesack, auch der aus Valparaiso (und doch walisisch), Geschenk eines skorbutkranken Waliser Matrosen,

      1 Spange, eingraviert die Initialen RB (und unverändert seit über 20 Jahren duftend nach Regyns Haar).

      Von der Endurance hätte er gern eine Planke gehabt, Orde-Lees’ Grammophon, einen Topf aus Greens Kombüse, ein Stück einer Leine oder nur den Fetzen eines ihrer Klüversegel. Aber mit dem Schiff war alles untergegangen, was sie mit den drei Beibooten nicht mehr übers Eis hatten schleppen können.

      So starrte er ins Dunkel des Zimmers, froh, wenigstens die Photographie zu besitzen, die den kleinen Dreimaster am Kai von La Boca zeigte, wenige Tage, bevor sie Buenos Aires Richtung Eis verlassen hatten – eine von 100 Aufnahmen, die Frank Hurley retten konnte und mit Shackletons Erlaubnis mitnehmen durfte.

      Mehr besaß er auch von Sir Ernest nicht: eine Photographie und zwei Bücher, die er sich aber erst nach seiner Rückkehr in Newport gekauft hatte. Shackleton hatte dafür gesorgt, dass keiner von ihnen Persönliches aus dem Eis mitnahm. Selbst einen Brief, einen Kamm, eine Haarlocke befand er für »viel zu schwer«.

      Erst vor ein paar Wochen hatte er einen Kamm seiner Mutter aus Pillgwenlly mitgehen lassen, der ihn auf unerklärliche Weise an seine Kindheit erinnerte. Im Dunkeln sah er die an die Tapete geklebten Zeichnungen seines Neffen leuchten. Er hatte Regyn ein Dutzend von Willie-Merce’ Buntstiftgemälden abgetrotzt. Briefe von Bakewell, die der ihm von Geschäftsreisen nach Südamerika schrieb, oder Postkarten von Tom Crean aus Annascaul verwahrte er in einer Schatulle, die ihrerseits ein Andenken war: Sein Großvater hatte sie getischlert und mit Intarsien versehen, während er selbst, vier oder fünf Jahre alt, staunend dabeistand und dem alten Mann mit den langen weißen Haaren auf den Fingern die Holzplättchen reichte.

      Offenbar war er ein hoffnungsloser Nostalgiker, ein durch und durch sentimentaler Memorabilienjäger, jemand, o Gott, der nicht in sich selbst ruhte, sondern sich verstreute auf Orte, Gegenstände und Menschen, die ihn umgaben. Er drehte sich zur Wand, schloss die Augen und kniff sie fest zusammen. Schluss mit Listen. Schlafen, träumen, aufwachen, weitermachen! Er hörte den gegen die Fenster trommelnden Regen und fragte sich, ob es wirklich so war, dass er von allen Menschen, die ihm etwas bedeuteten, Andenken sammelte und Dinge hortete, als wäre er der einzige Wärter und zugleich einzige Besucher eines Merce-Blackboro-Gedächtnismuseums.

      Falls es so war – was besaß er von Ennid?

      Nichts! Nicht den kleinsten Gegenstand, keinen Knopf ihres Regenmantels, keine Wimper, die ihr ausgefallen und auf seinem Jackenärmel liegen geblieben wäre. Er drehte sich zurück, mit einem Mal war er wieder hellwach. Nichts von ihr zu besitzen bedeutete keinesfalls, dass sie ihm unwichtig war, im Gegenteil!

      Was weiß ich von ihr, fragte er sich im Stillen, warum liebe ich sie … wieso ausgerechnet sie? Was hat sie an sich, das sie so einzigartig macht?

      Er überlegte sehr lange.

      Dann sagte er sich: »Mach eine Liste …«

      Was er von ihr wusste, hatte ihm fast alles Regyn verraten.

      Seine Schwester war etwas älter als Ennid, doch weil beide Mari Simms und Gonryl Frazer kannten, wurden auch sie Freundinnen und verloren sich schon aufgrund der Geschäftsbeziehungen ihrer Väter nie aus den Augen.

      Sie kannten sich lange (»sind liebe Freundinnen«, würde Ennid es nennen), im Grunde aber mochte Regyn Ennid nicht sehr (was Ennid nicht glauben würde), denn Reg hielt ihre Freundin für großspurig und allürenhaft (»Im Ernst?«, würde Ennid wahrscheinlich sagen. »Dann wird wohl was dran sein …«).

      Wenn er nachrechnete – und das tat er immer wieder, ohne je einzusehen, dass stets dasselbe dabei herauskam –, so hatte er sich in den siebeneinhalb Jahren, die auch er sie kannte, zusammengenommen eine gute Stunde lang mit Ennid Muldoon unterhalten – was grotesk war und ihn daran zweifeln ließ, dass Arithmetik irgendetwas über das Leben aussagte.

      Von Regyn wusste er, dass Ennid, wenn sie allein war, sich gern vorstellte, was keiner sehen konnte: das Fortleben der Toten. Dabei glaubte sie nicht an Geister (wenngleich die Gespenstergeschichte ihrer gemeinsamen Freundin Mari Simms von dem blonden Mann, der angeblich jeden Sonntagmorgen durch ihr Spiegelbild ging, wenn sie am Frisiertisch saß, auch Ennid verstörte). Sie glaubte vielmehr an die Kraft der Erinnerung, die in ihren Augen die Lebendigkeit bewahrte oder sogar erst stiftete, weshalb sie sich oft ihre verstorbenen Eltern vorstellte, wie sie bei Tisch saßen und lachten.

      Sie dachte an die Schiffe, die sie gemeinsam mit ihrem Vater ausgerüstet hatte und die auf den Severn hinausgefahren und nie nach Newport zurückgekehrt, sondern in irgendeinem Sturm auf irgendeinem Ozean gekentert und auf den Meeresgrund hinuntergesegelt waren.

      Und natürlich erzählte sie Reg oft von ihrem Flieger-Ass, von Mickie Mannock, davon, wie sie ihn sich ausmalte, im Luftkampf über Paris, mit einem knatternden MG, das Regyns erster Mann Herman entwickelt und eigenhändig an Mickies Dreidecker montiert hatte. Das Maschinengewehr spuckte Funkenblitze, die am Himmel über der Seine davonschossen (»wie brennende Vögel im Traum«, sagte Ennid) und im Leeren verloschen. Manchmal meinte Ennid, Mickies Hand zu spüren, wie sie in ihr Haar fasste und ihren Hinterkopf umfing, und mit geschlossenen Augen hörte sie ihn immer noch flüstern: »Komm her, süßer Schatz« – ehe er sanft ihren Kopf zu sich heranzog, um sie zu küssen.

      Laut Regyn existierte angeblich ein Buch, in das Ennid Briefe an Mickie Mannock schrieb, das legendäre Buch an Mick – aber selbst Reg wusste davon nur vom Hörensagen. Ihre gemeinsame Freundin Gonryl Frazer, die Vierte im Bund, behauptete, das Buch gesehen, sogar darin geblättert zu haben. Reg bezweifelte das. Er aber, ihr kleiner Bruder, konnte sich so ein Buch gut vorstellen – und sah bei dem Gedanken sogleich das akribisch von Ennid geführte Auftragsbuch des alten Muldoon vor sich.

      Während eines Spaziergangs am Ebbw kurz nach Kriegsende unterhielt sich Ennid mit seiner Schwester einmal über Turmsegler. Dass diese Vögel im Flug schliefen, erzählte sie Reg, und dass sie deshalb im Herbst oft an Turmsegler denke, schlafend in der Luft überm Atlantik, unterwegs nach Afrika.

      Ennid war nie weiter gereist als bis nach Irland, einmal nach Gloucestershire und einmal nach Kent. Vielleicht deshalb las sie viel, mehr als er selbst, und lieh Regyn Bücher, um sich mit ihr darüber austauschen zu können, Bücher, die Reg auf dem Marketerietischchen im Kaminzimmer in Pillgwenlly liegen ließ und nicht weiter beachtete, denn Lesen gehörte für Regyn Bakewell zu den verzichtbaren Beschäftigungen.

      Ennids Bücher waren für ihn schwierig zu lesen, denn da sie voller Unterstreichungen waren, erinnerten sie ihn an ihre Finger, Hände, Augen und damit ihre Art, die Dinge zu sehen. Er erinnerte sich weniger daran, was er in Ennids Büchern gelesen, als daran, was sie beim Lesen angestrichen hatte.

      Er las Blackwoods schaurige Darstellung der Weidenbäume in den Donausümpfen (»eine ungeheure Meute lebendiger Geschöpfe«), er las Bonds Schilderung der Ringe des Saturn und in Einsteins Relativitätstheorien, las Beschreibungen der Dschunken von Hongkong und der Märkte in Timbuktu, und verblüfft erfuhr er (weil Ennid es an den Rand geschrieben hatte), dass John Keats vor 100 Jahren ein Exemplar seines Versromans Endymion einem Sahara-Reisenden mitgab, damit der das Buch in die Wüste warf.

      Alle Bücher, die sie Reg lieh, warf

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