Seeland Schneeland. Mirko Bonné

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Seeland Schneeland - Mirko Bonné

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Tydfil.«

      »Davon bin ich überzeugt, sweetheart. Danke.«

      So gut es ging, hielt er sich an den Wackellehnen fest und machte sich auf den Weg nach vorn zur Kanzel. Er spürte den Groll in sich aufsteigen und tastete nach der Flasche an seiner Brust. Diese Zerknirschung, wie ekelte sie ihn an.

      »Diver!«, sagte Miss Simms hinter ihm. Er drehte sich um und sah, dass sie Bryn ein Stück Papier gab, einen zusammengefalteten Zettel. Meeks schnallte sich ab, er kam durch die Sitzreihen nach vorn und reichte ihm das Papier.

      »Von der jungen Lady, Diver. Bitte, seien Sie nett zu ihr.«

      Er zog eine Grimasse und trat in die Kanzel.

      Er steckte den Zettel ein und genoss es, nicht zu wissen, was darauf stand. Den Namen des Piloten hatte er schon wieder vergessen. Andy Edison, oder wie immer er hieß, war Waliser wie Bryn, so viel war sicher, man hörte es, sobald er den Mund aufmachte. Er war noch keine 25, hatte die Airrant aber gut im Griff. Der junge Flieger war nicht das Problem.

      500 Meter über den Wolken spürte man nichts mehr von dem Monsun über dem Flugplatz mit dem unaussprechlichen Namen. Die Böen waren abgeflaut, der Wind hatte es aufgegeben, den Rumpf hin und her zu werfen und die Tragflächen flattern zu lassen wie bei einem silbernen Riesenschmetterling.

      Laut war es in jedem Cockpit gewesen, das er sich in der Luft angesehen hatte, lauter zumindest als in der Passagierkabine. Hier in diesem Vogel allerdings musste er sich fragen, wie der Jüngling, der ihn steuerte, es in der Kanzel überhaupt aushielt. Alles zitterte, rappelte, wummerte. Vor lauter Dröhnen schienen die Dinge zu schreien, weil sie es nicht fassen konnten, fliegen zu sollen. Sie wollten nicht durch die Luft katapultiert werden.

      Wenn es stimmte, was der Junge ihm zurief, hatten die Leute, die dort unten lebten, seit Monaten die Sonne nicht gesehen. In dem schmalen Durchgang stehend registrierte er, dass es dort zugig war. Er nickte. So war ganz Europa – ein Schlamassel aus schlechtem Wetter, überkommenen Staatsformen, zusammengestohlenen Museen und hochtrabenden Plänen. Nirgends ließ es sich aushalten. In Paris gab es wenigstens Frauen, die tranken. Aber sonst? London war ein Witz, Rom ein Müllhaufen, Berlin eine lachhafte Bühne. Die einzigen Orte, an denen einer wie er nicht erstickte, waren drei, vier Hotels am Genfersee, die er nur deshalb noch nicht hatte kaufen lassen, weil ihn alles, was er besaß, nach zwei Wochen tödlich langweilte. Warum etwas kaufen, wenn es dann nichts mehr gab, wo er sich eine Nacht lang zerstreuen und am Morgen etwas Schlaf finden konnte. Es war kein Wunder, dass sich ein junges Luftfahrtgenie wie Sikorski in die Staaten absetzte. In Russland musste man erfrieren oder sich duellieren und über den Haufen schießen lassen, um bewundert zu werden. Europa hatte das Schafott für seine Verbrecher erfunden und stattdessen seine Könige damit geköpft. In Europa führte man jahrzehntelang Krieg, flüchtete sich in eine Revolution, errichtete jubelnd Ungetüme wie den Eiffelturm. Man baute Schiffe, die mit voller Kraft gegen Eisberge dampften oder sich gegenseitig versenkten. Was nützte es, wenn die Prachtbauten der Metropolen noch immer so protzig wirkten wie im Athen von Aristoteles. Von Europa war nichts zu erwarten. Europa blieb, wie es immer war. Er hätte nicht auf Bryn hören sollen, diesen ausgemachten, unverbesserlichen Europa-Idioten. Seine Einflüsterungen hatten immer dasselbe Ziel: Meeks wollte seine Heimat sehen, es zog ihn nach Wales, wie es die halbe Welt nach Venedig zog – warum eigentlich? Alle zwei Jahre ging das so. Venedig kaufen, das wäre ein Plan! Venedig kaufen und es versenken.

      »Ziehen Sie sie mal hoch, die Ente, dann eine Linkskurve!«, rief er dem Piloten ins Ohr, der ihn daraufhin über die Schulter hinweg ansah wie ein Gymnasiast, den man aufforderte, von einem Aquädukt zu springen.

      »Na los! Dazu sind Sie schließlich hier! Ich verlange ja nicht, dass Sie einen Looping fliegen oder so was.«

      Er gehorchte, er sprang. Als die Harper die Nase hob und die Motoren aufheulten, spreizte Robey die Beine, um sicher zu stehen, er hielt sich am Türrahmen fest. Er zog den Flachmann aus der Innentasche und trank einen kräftigen Schluck Gin.

      Er hatte keine Angst. Angst hatte er zuletzt gehabt, als er acht oder neun gewesen war. Woher kommt die Luft, fragte er sich, wo ist die Kiste so undicht? Er wandte sich um, und jenseits des Vorhangs, der jetzt in die Kabine hineinhing, sah er Meeks hochrot im Gesicht Rachegedanken hinter einer aufgeschwemmten Maske aus britischer Schockiertheit verbergen. Zeternd ging die Harper in Schräglage, klagend kippte sie nach links, schreiend raste sie hinab durch die blaue Leere auf das Wolkenmeer zu, bis der Junge – Eddy, so hieß er, ja – sie auffing und mit dem wiedergefundenen Horizont beschwichtigte.

      Pluspunkt für ihn, Minus, Minus, Minus für die Flugzeugbaukunst von Mr. Meeks’ Landsleuten.

      Was hatten sie von Wales gesehen? Die grauen walisischen Felder im Regen, die tristen walisischen Käffer im Dunst und von hier oben, aus dem Blechschmetterling, Wolken, Wolken, Wolken.

      Er las Maris Zettel. Auf die Ecke eines Blattes mit dem roten Schriftzug HARPE (R BROTHERS war abgerissen, quer durch ein kleines Flugzeug) hatte sie ihm ein lächelndes Gesicht gezeichnet und darunter geschrieben: »Das Leben ist schön.«

      Rührend. Als er zu seinem Platz zurückging, nickte er ihr zu. Sie freute sich.

      Eingeschnürt von dem Gurt und verfolgt von der Furie seiner Enttäuschung, war er restlos überzeugt, dass nicht der junge Flieger das Problem war, sondern das unausgereifte Fluggerät, die Harper Airrant 3, die um einiges zu leicht war für drei Liberty-Motoren, um Motoren, Tragflächen, Rumpf und vor allem Insassen wohlbehalten über den großen Teich zu befördern. Nein, die Harper-Konstrukteure brauchten gar nicht erst nach New York zu kommen.

      Eine schlechte Maschine war das nicht. Vor wenigen Wochen in Halifax bei Glenn Curtiss und im Herbst 1919 bei Blériot in Suresnes hatte er Pläne für drei größere Flugzeuge geprüft, die alle in den Atlantik gestürzt wären. Unerfindlich worüber, lachte Blériot unablässig. Junkers, der angeblich an einem »Ganzmetalllangstreckenpassagierflieger« tüftelte, ließ verlauten, er antworte nicht auf Briefe eines Hotel-Tycoons. Und von Sikorski hieß es, er sei den Schergen Lenins knapp entronnen und irgendwo in Amerika untergetaucht, ausgerechnet. Gut möglich, dass er in Wirklichkeit gar nicht mehr auf Erden weilte. Womöglich hatte ihn die rote Bande an die Wand gestellt und in einem karelischen Moor verscharrt.

      Aber auch diese walisische, mittlerweile neunzehnte Maschine, mit der er flog, würde keine Passagiere lebend von New York nach Paris oder London befördern. Ob es an den Motoren lag, die zu schwer oder stark waren, an den Nieten oder dem Stahlblech, das die Harper-Brüder bei ihrer Airrant verwendet hatten, konnte er nicht sagen. Er war ein Laie, der Deutsche hatte recht. Spielte das eine Rolle? Er hatte genug Geld, um sieben so selbstherrliche Fritzen wie Hugo Junkers bis ans Ende ihrer Tage Flugzeuge bauen zu lassen. Wenn der nicht wollte, würde er einen anderen finden, vielleicht doch Igor Sikorski, wenn der noch lebte. Aber Diver Robey – und der war er, noch immer – hatte nicht bloß Geld, sondern auch Ohren. Er hörte, wie hier alles zunächst summte, dann sang, dann dröhnte und schrie, und er spürte ein Vibrieren, das sich auf seinen Körper übertrug und sein Herz rasen ließ.

      Angst war das keine, und wer, bitte, wäre man, würde man jedem die Erregungszustände zeigen, die man von früh bis spät mit sich herumtrug. Spring von dem Aquädukt, oder schlag den zu Boden, der solchen Unfug von dir verlangt. Wie herrlich war es zu fliegen! Nur das zählte – höchstpersönlich der archimedische Punkt zu sein, von dem aus man das eigene Leben wie von außen, als Gast, als Fremder, und zugleich aufs Innigste betrachten konnte. Er liebte jede Sekunde dieses Abenteuers, weil dann stimmte, was auf dem Zettel stand und was im Gesicht der jungen Miss zu lesen war. Zu leben war dann schön.

      Bis sie landeten, würde er sich die Wirkung von einem Viertel Nembutal, aufgelöst in Gin, ausmalen und an Bryn Meeks vorbei scheinbar unbeteiligt

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