Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg

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Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 - Claus J. Duisberg

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Leipzig über 100 000, nach manchen Schätzungen fast 300 000 Menschen zusammen, die für freie Wahlen und gegen eine neue Machtkonzentration demonstrierten. Nach der – im Gegensatz zu früher mit Gegenstimmen und Enthaltungen erfolgten – Wahl kam es in Berlin und anderen Orten zu Protestdemonstrationen gegen Krenz. Die Blockparteien versuchten, ebenfalls auf Distanz zum bisherigen System und zu ihrer eigenen Vergangenheit zu gehen. Die Liberaldemokratische Partei (LDPD) forderte in einem Papier, das am 22. Oktober bekannt wurde, die Zulassung des »Neuen Forums«; und die DDR-CDU veröffentlichte am 28. Oktober ein Diskussionspapier, in dem unter anderem freie und geheime Wahlen verlangt wurden. Schließlich sogar bat am 4. November das DDR-Fernsehen unter Eingeständnis seiner Mitverantwortung für die früheren Verhältnisse die Bevölkerung ausdrücklich um Entschuldigung.

      Partei und Regierung versuchten zunächst, den Druck mit Einzelmaßnahmen aufzufangen, gerieten aber zunehmend in die Defensive und wichen schließlich auf breiter Front zurück. Zahlreiche führende Funktionäre wurden von ihren Posten entbunden, und am 7. November trat erst die Regierung, dann am 8. November das Politbüro der SED geschlossen zurück. In den Vordergrund traten stattdessen Personen, die den Dialog mit der Bürgerbewegung nicht scheuten und sich bereit zeigten, den Weg der Veränderung zu gehen. Prominenz erlangten der Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, der sich schon frühzeitig, erstmals am 16. Oktober, den Bürgerrechtsgruppen zum Gespräch gestellt hatte, und Hans Modrow, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung in Dresden, dem der Ruf reformerischer Neigungen sowie persönlicher Integrität und Bescheidenheit vorausging und der auf der Sitzung des Zentralkomitees am 8. November zum neuen Ministerpräsidenten bestimmt wurde.

      In Berlin verkündete Günter Schabowski, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung und im Politbüro jetzt für Informationswesen und Medienpolitik zuständig, am 29. Oktober bei einer Bürgerdiskussion vor dem Rathaus, daß Demonstrationen künftig auch in Berlin zur politischen Kultur gehören sollten. Wie zur Bestätigung versammelten sich darauf am 4. November rund eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz zu der bis dahin größten freien Kundgebung, die – ein weiteres Novum – vollständig vom DDR-Fernsehen übertragen wurde. Eingeladen hatten die Künstlerverbände der DDR; Redner waren vor allem Schriftsteller, darunter Christa Wolf und Stefan Heym, aber auch Funktionäre der SED, insbesondere Schabowski und bemerkenswerterweise der ehemalige Leiter der Hauptabteilung Aufklärung im Staatssicherheitsdienst Markus Wolf. Während die Funktionäre vielfach ausgepfiffen wurden, artikulierte Stefan Heym das neue Selbstbewußtsein, indem er vom aufrechten Gang sprach, den die Menschen in der DDR wieder lernen müßten. Gefordert wurde eine neue, bessere DDR, ein Staat mit menschlichem Gesicht sowie Freiheit und Demokratie bei sozialer Gerechtigkeit. In den folgenden Tagen unterzeichneten Künstler und Mitglieder von Oppositionsgruppen einen Appell, den Christa Wolf am 8. November im Fernsehen verlas und in dem alle aufgefordert wurden, in der DDR zu bleiben und beim Aufbau einer »wahrhaft demokratischen Gesellschaft« zu helfen. Weitgehend die gleichen Kreise veröffentlichten am 26. November einen Aufruf »Für unser Land«, in dem für die Eigenständigkeit der DDR und die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit und Bewahrung der Umwelt geworben und vor einem Ausverkauf der materiellen und moralischen Werte der DDR und Vereinnahmung durch die Bundesrepublik gewarnt wurde.

      Die Mauer fällt

      Ein bestimmendes Thema blieb aber nach wie vor die Reiseund Ausreisefrage. Die Zahl derjenigen, die diesen Staat auf immer verlassen wollten, wurde nicht kleiner, sondern nahm eher noch zu. Bereits am 19. Oktober, einen Tag nach Honeckers Sturz, war der Innenminister beauftragt worden, umgehend einen Gesetzentwurf über Reisen von Bürgern der DDR ins Ausland vorzubereiten. Am 6. November wurde dieser Entwurf veröffentlicht und stieß sofort auf heftige Kritik. Gemessen an den früheren Bestimmungen war er zwar recht liberal – jeder sollte einen Paß erwerben und jährlich maximal 30 Tage ins Ausland fahren können; auch sollte über Anträge innerhalb von 30 Tagen entschieden werden, bei einer »ständigen Ausreise«, das heißt Übersiedlung, in längstens 6 Monaten. Aber die Zeit für derartige bürokratische Reglementierungen war vorbei. Im Zentralkomitee wurde dann auch beschlossen, die Einschränkungen weitgehend fallenzulassen. Günter Schabowski, der zum Abschluß der Sitzung am 9. November um 18.00 Uhr vor die Presse trat, hatte den Entwurf eines Ministerratsbeschlusses bei sich, der als Übergangsregelung bis zum Erlaß eines Gesetzes kurzfristige Genehmigungen von privaten Auslandsreisen ohne besondere Voraussetzungen sowie die Erteilung von Sichtvermerken für ständige Ausreisen unmittelbar aus der DDR in die Bundesrepublik und nach West-Berlin vorsah. Die förmliche Verabschiedung und auch die zur praktischen Umsetzung erforderlichen Anweisungen an die Grenzdienststellen standen jedoch noch aus; auch eine Pressemitteilung sollte erst am 10. November herausgegeben werden, was Schabowski jedoch nicht wußte oder übersah. Gedrängt von den Journalisten gab er den Inhalt bekannt, ohne weiter zwischen Besuchsreisen und ständiger Ausreise zu unterscheiden; und unter dem Eindruck der ihm von Krenz vermittelten dringlichen Bedeutung beantwortete er schließlich die Frage, wann die neue Regelung in Kraft treten werde, verwirrt mit »sofort, unverzüglich«. Schon wenige Minuten später, kurz nach 19.00 Uhr, lief über die Agenturen, dann über alle Abendnachrichten die Meldung, daß die DDR ihre Grenze öffne. Binnen kurzem sammelten sich vor den Übergangsstellen in Berlin Tausende von Menschen, die auf die Absperrungen zudrängten. Ohne Anweisungen und von den Nachrichten selbst verunsichert, taten die Grenzpolizisten das Vernünftige: Sie öffneten die Schlagbäume und ließen die Menschen hindurch.

      Im Bundeskanzleramt hatten wir bereits nachmittags Hinweise erhalten, daß nach der Sitzung des Zentralkomitees wichtige Mitteilungen zu erwarten seien. Als wir dann aber die Meldungen über die Grenzöffnung hörten und wenig später im Fernsehen Bilder aus Berlin dazu sahen, konnten wir es nicht wirklich fassen. Der Bundeskanzler war am Morgen zu einem offiziellen Besuch nach Warschau gereist. Eduard Ackermann übernahm es, ihn telefonisch zu unterrichten. Minister Seiters lud seinerseits kurzfristig die Bundestagspräsidentin sowie die Fraktionsvorsitzenden ein, die alle genauso fassungslos waren wie wir selbst. Es wurde verabredet, daß der Bundestag um 21.00 Uhr zu einer Plenarsitzung zusammentreten sollte, auf der Seiters für die Bundesregierung und danach die Fraktionsvorsitzenden kurze Erklärungen zu dem Ereignis abgeben würden. Ich habe dann in aller Eile die Erklärung für Seiters entworfen, die in den wesentlichen Teilen wie folgt lautete:

      »Die vorläufige Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen aus der DDR ist ein Schritt von überragender Bedeutung. Damit wird praktisch erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR hergestellt. Mauer und Grenze in Deutschland werden damit durchlässiger. Die Bundesregierung hofft, daß diese Entscheidung der DDR-Führung einen Schritt in Richtung auf eine echte Liberalisierung in der DDR darstellt. Das Ziel muß bleiben, ... die Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands so zu entwickeln, daß die Menschen, die dort ihre Heimat haben, für sich die Perspektive auf eine lebenswerte Zukunft sehen. Vor diesem Hintergrund will ich noch einmal an die Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom gestrigen Tage erinnern ... Die Chancen und Perspektiven, die sich hier auf friedliche Weise eröffnen, erfordern ein ganz hohes Maß an Solidarität, die jetzt in der Bundesrepublik in einer außergewöhnlichen Weise gefragt ist und von der ich überzeugt bin, daß sie auch praktiziert wird. Wir, die freigewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, sollten gemeinsam an unsere Bevölkerung appellieren, die Solidarität in einer historischen Stunde auch unter Beweis zu stellen.« 36

      Auch die anderen Erklärungen waren tastend, zurückhaltend in ihren Aussagen, aber ergriffen vom Ereignis. Am Ende der Sitzung standen alle Abgeordneten spontan auf und sangen die Nationalhymne. Unter den vielen bewegenden Momenten dieses Jahres war es für mich der ergreifendste, an den ich nie ohne Rührung zurückdenken kann.

      In Berlin wurde es eine Nacht der Begeisterung, des Taumels und des Glücks. Wer immer gehen oder fahren konnte, machte sich auf zur Grenze. Wildfremde Menschen fielen sich in die Arme, weinten und lachten, feierten gemeinsam das Ende der Trennung und des Leids, das die Mauer den Menschen in Ost und West gebracht hatte. »Soviel Trauer durch die Mauer«, sagte eine alte Frau vor der Kamera, dann brach sie in Schluchzen aus.

      Doch

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