Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg

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Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 - Claus J. Duisberg

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von Ministern stelle einen Bruch der Absprache dar. Die Begleitung sei ein wichtiges Element für die Vertrauensbildung und deshalb auch eine der Grundlagen für die Entscheidung des Bundeskanzlers gewesen. Neubauer behauptete, es sei nur von einer Begleitperson die Rede gewesen. Seiters bestand auf Überprüfung der Entscheidung. In einem weiteren Telefongespräch eine halbe Stunde später erklärte Neubauer jedoch, es müsse bei der getroffenen Entscheidung bleiben – die Minister könnten nicht mitreisen. Seiters wiederholte, daß dies der Absprache widerspreche; wir würden dennoch unser Bestes für den Erfolg der Operation tun, aber wenn es Probleme gebe, liege die Verantwortung allein bei der DDR.

      Nun war jedenfalls der Zeitpunkt gekommen, zu den Flüchtlingen zu sprechen. Wir gingen alle hinaus auf einen Balkon an der Gartenseite, wo ein Mikrophon mit Lautsprecheranschluß installiert war. Unten die Zeltstadt, jenseits des Gartens an einem Hang Batterien von Fernsehkameras und Scheinwerfern, die Zelte und Menschen in ein fahles Licht tauchten. Tausende von bleichen Gesichtern schauten zu uns herauf, die Spannung zitterte fühlbar und machte sich in skandierten Rufen »Genscher, Genscher!« Luft. Genscher sagte: »Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik...« Seine weiteren Worte gingen unter in einem aus der Tiefe kommenden, fast animalischen Schrei, in dem sich alles auf einmal entlud: Verzweiflung, Angst, die Bedrückung des Lagerlebens und ungeheure Erleichterung, daß es nun – endlich! – in das gelobte Land gehen sollte. Es war unheimlich und bewegend zugleich. Uns allen standen Tränen in den Augen. Erst nach geraumer Zeit und erneuten »Genscher, Genscher«-Rufen wurde es etwas ruhiger, so daß Genscher weitersprechen und das Nötige zum Ablauf des Transports sagen konnte.

      Anschließend beim Gang durchs Gebäude überall freudige Erregung, Nachfragen, auch immer wieder Worte des Dankes an die Minister. Genscher wäre nicht gewesen, was er ist, wenn er nicht sofort vor der Botschaft dem deutschen Fernsehen ein Interview gegeben hätte, in dem er unter Hinweis auf seine vorangegangenen Gespräche in New York für sich das Hauptverdienst an dem Ergebnis in Anspruch nahm. Die Nachrichten waren aber nun ohnehin schon in der Welt.

      Danach trafen wir uns wieder bei Hubers, von wo man oben die erleuchteten Gebäude des Hradschin, das Palais Starhemberg und die Türme des Veits-Doms sehen konnte und unten die ersten Grüppchen von Flüchtlingen, die durch die kleine Gasse stadteinwärts gingen, wo an einem Platz die Busse warteten, die sie zum Bahnhof bringen sollten.

      Kastrup sollte den ersten Transport begleiten und brach deshalb schon auf. Ich suchte noch einmal telefonisch Neubauer zu erreichen, um einige Fragen zu klären. Neubauer beklagte sich gegenüber Seiters bereits über die Publizität und das Fernsehinterview von Genscher, worauf Seiters nur erwidern konnte, daß es eine Illusion sei, eine Aktion dieser Art unter Ausschluß der Öffentlichkeit abzuwickeln. Ich war für den zweiten Transport vorgesehen und machte mich gegen 21.00 Uhr mit zwei jüngeren Kollegen von der Botschaft ebenfalls auf den Weg. Als wir den zu den Bussen gehenden Menschen zuriefen, daß wir sie begleiten sollten, wurden wir mit lautem Beifall begrüßt. Uns entgegenkommende weitere Flüchtlinge, die auf dem Weg zur Botschaft waren, machten sofort kehrt, als sie die gute Nachricht hörten, und schlossen sich uns an.

      Die Züge sollten von einem Bahnhof im Außenbezirk Prags abfahren, wo die Aktion weniger Aufsehen erregte und das Gelände besser abzusperren war. Der erste Zug mit Kastrup war, wie ich hörte, ordnungsgemäß abgefahren; der zweite ließ jedoch auf sich warten. Es war schon nach 23.00 Uhr, und es kamen immer weitere Busse mit Flüchtlingen aus der Botschaft, die sich in der bald überfüllten Bahnhofshalle und dann auf dem Vorplatz sammelten und zunehmend unruhiger wurden. Dann fuhr ein Zug ein, jedoch nicht der für uns bestimmte, sondern ein regulärer Fernzug, der aus Ungarn kam und in dem auch zahlreiche Deutsche aus der DDR saßen. Als sie hörten, daß es eine Direktverbindung nach Westdeutschland geben sollte, stiegen einige auf der Stelle aus und gesellten sich zu den Wartenden. Schließlich – es war schon gegen Mitternacht – kam unser Zug, der sofort bis auf den letzten Platz gefüllt wurde und dann auch bald abfuhr.

      Der erste Halt war an der tschechisch-deutschen Grenze, und alle wurden unruhig. Aber außer Bahnpersonal und einem Paar in Lederjacke, der Ausgehtracht der Staatssicherheit, ließ sich niemand sehen. Um 2.00 Uhr morgens hielt der Zug erneut in Dresden am äußersten südlichen Bahnsteig des Hauptbahnhofs. Auf der Straße hinter dem Bahnhof standen ähnliche Gestalten wie an der Grenze und schienen voll Interesse den nächtlichen Himmel zu betrachten. Auch drei junge Leute lungerten auf dem Bahnsteig herum. Ich hielt sie zunächst für Vertreter derselben Firma, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte und sie plötzlich losliefen und im Fahren aufsprangen. Sie hatten, wie sie mir dann erzählten, auf einer Autofahrt im Radio von den Ereignissen in Prag gehört und spontan beschlossen, sich anzuschließen, waren aber nicht mehr über die Grenze gelassen worden und darauf nach Dresden gefahren. Hier hörten sie, daß die Flüchtlingszüge durchfahren sollten, und versuchten ihr Glück. Sie brachten nur das, was sie auf dem Leib trugen, und ihre Entscheidungsbereitschaft in den Westen.

      Es dämmerte schon, als sich der Zug langsam dem Grenzgebiet näherte. An einigen Häusern waren Tücher aufgehängt, Menschen standen am Fenster und winkten; auch Eisenbahner grüßten verstohlen. Der letzte Halt vor der Grenze war in Reichenbach. Der Bahnsteig, an dem wir hielten, war nach außen vollkommen abgeschottet; auf allen anderen Gleisen standen Züge mit geschlossenen Waggons, so daß niemand von außen Einblick hatte noch auch von drinnen hätte entkommen können. Ein Trupp von Männern in grauen Anzügen, vermutlich Mitarbeiter des Innenministeriums und der Staatssicherheit, verteilte sich auf die Wagen. Ich stellte mich als Begleiter aus dem Bundeskanzleramt vor, was zur Kenntnis genommen wurde. Auf meine Frage, ob die Flüchtlinge nun ihre Ausreisepapiere erhalten würden, bekam ich in dem für DDR-Organe typischen Ton von Anmaßung und Zurechtweisung die Antwort: »Behindern Sie hier keine Amtshandlungen!« Tatsächlich wurden entgegen der Zusage von Neubauer keine Ausreisepapiere ausgegeben, sondern nur die DDR-Ausweise eingesammelt, so daß viele ganz ohne Identitätsnachweis nach Westdeutschland kamen.

      Meine Kollegen und ich hatten vorher in Gesprächen im Zug zur Ruhe gemahnt; aber die Stimmung war, wie nur allzu verständlich, aufs äußerste gespannt. Manche schleuderten den Vertretern ihres bisherigen Staates wütend ihre Ausweise und restliches DDR-Geld vor die Füße oder stießen halblaute Beschimpfungen aus. Wir konnten nur immer wieder mahnen, nicht die Nerven zu verlieren. Angst und die offensichtlich den Vertretern der Dienste erteilte Weisung, Provokationen zu ignorieren, ließen es aber nicht zu Zwischenfällen kommen. Ich stellte mir allerdings die Frage, was zu tun sei, wenn einzelnen Flüchtlingen die Ausreise verweigert würde, und hatte für mich selbst entschieden, daß ich dann ebenfalls den Zug verlassen und zurückbleiben würde. Glücklicherweise wurde das aber nicht notwendig. Nach einer quälend langen Dreiviertelstunde wurde schließlich das Signal auf freie Fahrt gestellt. Als der Zug aus dem Bahnhof ausfuhr, ging hörbar ein Stöhnen der Erleichterung durch die Reihen, und als wir wenig später die schwarzrot-goldenen Grenzpfähle passierten, jubelten und schrien alle, lagen sich in den Armen, lachten und weinten. Überall an der Strecke standen winkende Menschen, und in Hof wurden wir von einer kaum übersehbaren Menge von Offiziellen und Helfern mit Begeisterung in Empfang genommen.

      In den folgenden Stunden trafen noch zwei weitere Züge ein. Infolge der Verspätung fuhren sie die größte Zeit bei Tageslicht durch die DDR und wurden von der Bevölkerung demonstrativ begrüßt, einige benutzten auch Gelegenheiten, um aufzuspringen und ebenfalls direkt in den Westen zu fahren. Ähnlich war es bei dem Transport aus Warschau, der etwa zur gleichen Zeit in Helmstedt eintraf.

      Wir Transportbegleiter sammelten uns in einer Kaserne des Bundesgrenzschutzes und flogen am Nachmittag mit einem Hubschrauber zurück nach Bonn. Dort erfuhr ich, daß die Botschaft in Prag sich schon wieder füllte. Scharen von DDR-Deutschen, die bereits in der Tschechoslowakei waren oder sich auf die Nachricht von der Ausreiseaktion dorthin aufgemacht hatten, sammelten sich bereits im Laufe des Sonntagvormittags auf dem Platz vor der Botschaft. Es kam zu Gedränge, zu Zusammenstößen mit der tschechischen Polizei, so daß das Tor schließlich wieder geöffnet werden mußte. Am Abend lagerten erneut mehrere tausend Flüchtlinge

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