Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg

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Freiraums. So schlug er mir in dem Gespräch am 5. September auch eine Regelung unter Einschaltung der evangelischen Kirche in der DDR vor, bei der die Bundesregierung zusichern sollte, Vorkehrungen gegen eine erneute Besetzung der Vertretungen zu treffen, während die DDR ihrerseits größere Reisefreiheit einschließlich der Behandlung von Problemfällen in Aussicht stellen würde.

      Sowohl Bahrs wie Stolpes Vorschläge liefen darauf hinaus, daß die Bundesregierung von ihrer Grundsatzposition abweichen sollte, Menschen aus der DDR vorbehaltlos als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes zu behandeln. Ich konnte beiden deshalb nur sagen, daß gerade das nicht möglich war. Weder konnten wir rechtlich noch wollten wir politisch irgendeine Verpflichtung eingehen, Zufluchtsuchende zum Verlassen unserer Vertretungen zu nötigen; und schon gar nicht wollten wir mit der DDR eine allgemeine, auch für künftige Fälle geltende Vereinbarung treffen. Ich bat daher auch Bertele, in seinem nächsten Gespräch mit Schindler eindeutig zu erklären, daß wir zwar wie bisher allen Besuchern raten würden, unsere Vertretungen zu verlassen und sich mit ihrem Ausreiseanliegen an die zuständigen Stellen der DDR zu wenden, daß wir aber auch in Zukunft niemanden, der nicht freiwillig gehe, vor die Tür setzen würden 21 . Bertele trug das am 30. August vor und erhielt am folgenden Tag auf Einzelfragen noch einige Präzisierungen zu dem, was den Zufluchtsuchenden an – nicht sehr weitreichenden – Zusicherungen gegeben werden könnte. Laut Schindler gab es eine Entscheidung der gesamten Führungsspitze der DDR, keine über die Straffreiheit hinausgehenden Zusagen zu machen 22 .

      Nach interner Abstimmung, insbesondere mit dem Auswärtigen Amt, wies ich am 6. September Bertele an, im Außenministerium der DDR zu erklären, wir seien zwar grundsätzlich bereit, den Zufluchtsuchenden in der Ständigen Vertretung die von der DDR gegebenen Zusicherungen mit den dazu mitgeteilten Erläuterungen und Präzisierungen zur Kenntnis zu bringen; doch sollten die Gespräche in Anwesenheit von Rechtsanwalt Vogel geführt werden, der auch seinerseits die Position der DDR darlegen und Fragen beantworten müßte. Wir wollten jedoch noch einmal klarstellen, daß eine Lösung aus unserer Sicht nur in der Weise möglich sei, daß die Zufluchtsuchenden selbst freiwillig die Vertretung verließen; die Bundesregierung könne und wolle sich insoweit zu nichts verpflichten. Die zwischen uns und der DDR geführten Gespräche bezögen sich im übrigen ausschließlich auf die Personen, die sich jetzt in unserer Vertretung aufhielten, nicht auf andere 23 .

      Ein Riß in der Mauer

      Letzteres war von Bedeutung, weil der entscheidende Zug in Kürze von ganz anderer Seite kommen sollte. Am 22. August hatte die ungarische Regierung intern entschieden, das Flüchtlingsproblem durch Öffnung der Grenze zu lösen; am 25. August trafen der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn kurzfristig und unter großer Geheimhaltung mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher auf Schloß Gymnich bei Bonn zusammen, um darüber zu sprechen 24 . Drei Tage später verlautete aus dem Außenministerium in Budapest, wo inzwischen über 1400 Deutsche aus der DDR in Auffanglagern auf eine Ausreisemöglichkeit warteten, das Problem werde in kurzer Zeit geregelt werden. Die DDR zeigte sich aufs höchste beunruhigt, und auf ihre dringliche Bitte kam der ungarische Außenminister am 31. August nach Berlin zu einem Gespräch mit DDR-Außenminister Fischer, das jedoch offensichtlich nicht in gegenseitigem Einvernehmen verlief. Die DDR pochte hinsichtlich der Flüchtlinge auf strikte Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch Ungarn; Fischer behauptete außerdem wahrheitswidrig, daß es bereits eine Einigung mit der Bundesregierung gebe. Horn verwies demgegenüber auf die besondere Lage und die menschenrechtlichen Verpflichtungen sowie die humanitäre politische Praxis der ungarischen Regierung.

      In den folgenden Tagen wuchs die Zahl der ausreisewilligen DDR-Deutschen in Ungarn dramatisch auf mehrere Tausend an. Die DDR eröffnete bei dem Flüchtlingslager eine Beratungsstelle, die die Menschen zur Rückkehr in ihre Heimat bewegen sollte, damit aber so gut wie keinen Erfolg hatte. In Bayern wurden bereits Zeltstädte für die Flüchtlinge errichtet.

      In dieser Lage ging es für die DDR nur noch um Gesichtswahrung. Am 4. September griff der Sprecher des DDR-Außenministeriums die Bundesregierung wegen ihrer Haltung gegenüber den Flüchtlingen in den Vertretungen an, und am 7. September protestierte der Leiter der Ständigen Vertretung der DDR, Horst Neubauer, bei Minister Seiters gegen die »widerrechtliche« Wahrnehmung von sogenannten Obhutspflichten gegenüber DDR-Bürgern und verlangte, daß die Bundesregierung ihre völkerrechtswidrigen Praktiken unverzüglich einstelle 25 . Fast gleichzeitig sprach Bertele im DDR-Außenministerium vor und verabredete ein Gespräch mit den Zufluchtsuchenden in der Ständigen Vertretung unter Beteiligung von Rechtsanwalt Vogel und Staatssekretär Priesnitz für den folgenden Tag. Vogel blieb dann zwar dabei, den Zufluchtsuchenden ausdrücklich nur Straffreiheit zuzusichern; seine indirekten Hinweise auf eine wahrscheinlich positive Behandlung der Ausreiseanliegen waren jedoch hinreichend deutlich und führten dazu, daß noch am selben Tag alle die Ständige Vertretung verließen. Da wir nicht sofort wieder mit dem gleichen Problem konfrontiert werden wollten, blieb die Ständige Vertretung vorerst für den Publikumsverkehr geschlossen, was offiziell mit Sanierungsund Umbauarbeiten begründet wurde, die in der Tat nach der Überbeanspruchung erforderlich geworden waren.

      Zwei Tage später, in der Nacht vom 10. auf den 11. September, öffnete Ungarn die Grenze nach Österreich und gestattete allen Flüchtlingen aus der DDR die Ausreise in den Westen. Nun war kein Halten mehr. Bis Ende September kamen über 25 000 Flüchtlinge auf diesem Weg nach Westdeutschland. Die DDR, die am 8. September von Ungarn vorab informiert worden war, hatte im letzten Augenblick noch versucht, die Einberufung des Außenministerrats des Warschauer Pakts zu erreichen, was der sowjetische Außenminister Schewardnadse aber ablehnte. So blieb ihr nur, am 12. September bei der ungarischen Regierung zu protestieren 26 ; die Nachrichtenagentur ADN und »Neues Deutschland« sprühten Gift, verhalten unterstützt von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Ungarn berief sich demgegenüber auf eine grundlegende Veränderung der Umstände, die es zu der »zeitweiligen Aufhebung einzelner Punkte« des bilateralen Abkommens mit der DDR gezwungen habe 27 ; Ministerpräsident Németh erklärte, Ungarn habe »im Namen der Menschlichkeit« gehandelt.

      Die Entscheidung der ungarischen Regierung zeugte von außerordentlichem Mut. Denn Ungarn brach damit für die Welt sichtbar aus der sozialistischen Solidarität aus, während immerhin noch rund 100 000 gut bewaffnete sowjetische Soldaten auf seinem Territorium stationiert waren. Die Folgen waren weitreichend. Im Rückblick erscheint der 11. September 1989 als der historische Moment, der das Ende der DDR einleitete. Dieser Staat war ein Kunstprodukt, das nur in der Abgeschlossenheit stabil blieb. Ein Sprung in der Glasglocke, und der Zerfall war nicht mehr aufzuhalten.

      Prag

      Das einzige Land, in das DDR-Bürger ohne Paß und Visum reisen konnten, war die Tschechoslowakei. Reisen dorthin waren deshalb von jeher auch gelegentlich zu – meist vereitelten – Fluchtversuchen genutzt worden. Jetzt hofften viele, auf diesem Wege nach Ungarn kommen zu können. Aus innenpolitischen Gründen mochte die DDR die Grenze nicht schließen; sie veranlaßte aber die Tschechoslowakei zu verschärften Kontrollen an ihrer Grenze zu Ungarn; Reisepapiere für Ungarn wurden Fluchtverdächtigen womöglich schon in der DDR abgenommen. Die Folge war ein verstärkter Andrang auf unsere Botschaft in Prag, wo sich bis zum 19. September bereits über 500 Zufluchtsuchende angesammelt hatten. Ihre Zahl nahm täglich zu; wenn sie nicht durch die Tür eingelassen wurden 28 , kletterten sie – vor laufenden Fernsehkameras und von der tschechischen Miliz nur wenig behindert – über den Zaun. Zufluchtsuchende kamen ebenfalls in die Botschaft Warschau und wurden dort mit Duldung der polnischen Behörden außerhalb des Botschaftsgeländes in einem Priesterseminar untergebracht.

      Es gab Anzeichen, daß die polnische Regierung sich vielleicht ähnlich wie Ungarn dazu bereit finden könnte, die Flüchtlinge auch ohne Zustimmung der DDR ausreisen zu lassen. In Prag dagegen schien eine solche Lösung angesichts einer sehr rigiden Haltung der tschechischen Regierung vorerst ausgeschlossen, und da die Probleme dort für uns von Tag zu Tag bedrängender wurden, meinte die DDR, die Bundesregierung

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