Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg

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Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 - Claus J. Duisberg

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Die DDR gewährleiste den freien Zugang, billige aber nicht den Aufenthalt dieser Menschen dort. Man verlange von uns zwar nicht, daß wir mit Gewalt gegen sie vorgingen, wir müßten sie jedoch nachdrücklich zum Verlassen der Vertretungen bewegen und alles unterlassen, was ihnen Hoffnung machen könnte, auf diesem Weg für sich eine Sonderregelung zu erhalten. Auch zu nur begrenzten Zusicherungen, die über die Zusage bloßer Straffreiheit hinausreichten, war Krolikowski nicht bereit. Seiters erwiderte, daß sich unter diesen Umständen an der jetzigen Lage nichts ändern werde und wir uns darauf einstellen müßten, über längere Zeit ein größeres Problem zu haben. Auch wenn die Bundesregierung unverändert an einer konstruktiven Weiterentwicklung der Beziehungen interessiert sei, werde aus objektiven Gründen eine starke Belastung kaum zu vermeiden sein. Die Bundesregierung werde aber in jedem Fall auf allen Ebenen weiterhin gesprächsbereit bleiben 17 .

      Bei dem anschließenden Besuch in der Ständigen Vertretung und dem Gespräch mit den Flüchtlingen zeigte sich Seiters, der sehr warmherzig und sensibel war, zutiefst angerührt. Er war fest entschlossen, diesen Menschen auf jeden Fall zu helfen, und Bertele und ich mußten ihn zurückhalten, damit er sich gegenüber den Flüchtlingen selbst und in der Öffentlichkeit nicht allzu entschieden auf die Notwendigkeit einer Lösung festlegte, was unsere Position gegenüber der DDR nur geschwächt hätte.

      Das negative Ergebnis des Gesprächs zwischen Seiters und Krolikowski wurde von der DDR sofort bekanntgegeben, weil sie hoffte, durch demonstrative Härte eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Ihr Problem war nämlich, daß sie es nicht allein mit den Zufluchtsfällen in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin zu tun hatte. Auch in unseren Botschaften in Budapest, Prag und – in geringerem Maße – Warschau drängten sich Menschen aus der DDR. Am 13. August mußte die Botschaft in Budapest, wo sich mehr als 180 Deutsche aus der DDR aufhielten, geschlossen werden, am 22. August auch die Botschaft in Prag, wo sich 140 Flüchtlinge festgesetzt hatten.

      Es war Urlaubszeit, und Tausende von Deutschen aus der DDR waren unterwegs. Ungarn, ohnehin ein beliebtes Reiseziel, war in diesem Jahr besonders attraktiv, nachdem es schon im Mai die Sicherungsanlagen an der Grenze zu Österreich abgebaut hatte 18 . Viele versuchten, die Ferienreise zum Dauerurlaub von der DDR zu nutzen und illegal über die ungarische Grenze in den Westen zu gehen. Soweit das nicht gelang, sammelten sie sich in wachsender Zahl vor der geschlossenen westdeutschen Botschaft und forderten, in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen zu dürfen. Sie blieben dort in ihren Autos, in Zelten und Notunterkünften und wurden von den Angehörigen der Botschaft, vom Malteser Hilfsdienst und vom deutschen wie vom ungarischen Roten Kreuz betreut und notdürftig versorgt.

      Sowohl Ungarn als auch Polen und die Tschechoslowakei waren vertraglich verpflichtet, Staatsangehörigen der DDR nicht ohne deren Genehmigung die Ausreise in das sogenannte nichtsozialistische Ausland zu gestatten, und mußten Flüchtlinge, die illegal die Grenze zu überschreiten suchten, an die DDR überstellen. Es war aber nicht zu übersehen, daß besonders Ungarn und auch Polen, die beide den Weg zu inneren Reformen eingeschlagen hatten und sich vorsichtig außenpolitisch zu emanzipieren suchten, diese Verpflichtung zunehmend als lästig empfanden. Offiziell erklärten sie, das Problem müsse zwischen den beiden deutschen Regierungen gelöst werden; intern wußten sie, daß es essentiell ein Problem der DDR war.

      Die ungarische Regierung ließ in Gesprächen zwischen Staatssekretär Sudhoff vom Auswärtigen Amt und dem ungarischen Außenminister Gyula Horn zunehmend Verständnis für unsere Position erkennen. Am 19. August wurden auf einer Veranstaltung der Paneuropa-Union an der ungarisch-österreichischen Grenze von der Menschenmenge vorübergehend Grenzsperren beseitigt. Dabei gelang 661 DDR-Bürgern die Flucht nach Österreich, und die ungarischen Grenzposten taten nichts, um das zu verhindern. Wenig später, am 24. August, durften 108 DDR-Bürger, die sich in unserer Botschaft in Budapest aufgehalten hatten, mit Papieren des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz nach Österreich ausreisen. Andere suchten auf eigenes Risiko – vielfach mit Erfolg – in den Westen zu gelangen.

      Die DDR mußte daher befürchten, daß bei Konzessionen gegenüber den Flüchtlingen in der Ständigen Vertretung in Berlin die Schranken in Budapest, Warschau und womöglich auch in Prag ganz fallen würden. Krolikowski hatte gegenüber Seiters bereits deutlich gemacht, daß die DDR eine Lösung wolle, bei der Wiederholungen ausgeschlossen würden. Mit diesem Ziel nahm sie am 23. August das Gespräch mit uns wieder auf. Der amtierende Leiter der für die Bundesrepublik Deutschland zuständigen Abteilung im Außenministerium, Schindler, schlug Bertele eine Regelung vor, die im Kern darauf hinauslief, daß wir alle DDR-Bürger, die mit Reise- und Ausreiseanliegen in unsere Vertretungen kämen, an die allein zuständigen DDR-Behörden verweisen und ihnen den Verbleib in den Vertretungen nicht gestatten sollten. Als Gegenleistung stellte Schindler in Aussicht, daß die Zufluchtsuchenden nach freiwilliger Rückkehr in ihre Heimatorte »ordentlich« behandelt würden, Rechtsmittel gegen ablehnende Ausreisebescheide einlegen und sich anwaltlich vertreten lassen könnten. Bertele empfahl, auf dieser Grundlage das Gespräch weiterzuführen, auch wenn er Zweifel hatte, daß die recht vagen Zusicherungen der DDR die Zufluchtsuchenden dazu bewegen würden, unsere Vertretung zu verlassen 19 .

      Auch von anderer Seite wurde der Bundesregierung nahegelegt, durch Zusicherungen gegenüber der DDR eine Lösung zu erreichen. Am 23. August drückte Egon Bahr in einem Gespräch mit Minister Seiters, an dem ich teilnahm, seine Beunruhigung über eine möglicherweise unkontrollierbare Entwicklung aus, die sowohl die Entspannung als auch die Handlungsfähigkeit der DDR beeinträchtigen könnte. Bahr war in der SPD-Fraktion für die deutschlandpolitischen Fragen zuständig und hatte in den vergangenen Jahren für die SPD eine eigene DDR-Politik betrieben. Er verband die Fähigkeit zu scharfer politischer Analyse mit unkonventionellem Denken und der Gabe für einprägsame Formulierungen. Als geistiger Vater der von Willy Brandt eingeleiteten neuen deutschen Ostpolitik hatte er seinerzeit allein und weitgehend selbständig die dafür grundlegenden Verträge mit der Sowjetunion und Polen sowie mit der DDR ausgehandelt 20 , war dann aber zunehmend auch zum nachdrücklichen Verteidiger des darin festgehaltenen Status quo geworden, in dem er die Grundlage für außenpolitische Stabilität in Europa sah. Wie Gorbatschow erkannte er zwar, daß Stabilität auf Dauer nicht ohne Wandlungen möglich war, meinte aber, daß der Wandel sich auf die innere Ordnung beschränken solle, das äußere Gefüge dagegen intakt bleiben müsse.

      Bahr hielt deshalb zwar die Einleitung eines wirklichen Dialogs zwischen Partei und Regierung der DDR einerseits und der Bevölkerung andererseits jetzt durchaus für erforderlich. Zur Lösung der aktuellen Probleme in den Vertretungen sah er dagegen nur zwei Möglichkeiten: eine kleine Lösung mit Zusicherung der Ausreisegenehmigung für die Zufluchtsuchenden durch die DDR gegen unsere Zusicherung, in künftigen Fällen von unserem Hausrecht Gebrauch zu machen, das heißt, sie bei Dienstende aus dem Hause zu weisen; und eine große Lösung mit Herstellung absoluter Reisefreiheit, wobei die Bundesregierung jedoch zusichern sollte, nur diejenigen auf Dauer aufzunehmen, die mit Genehmigung der DDR-Behörden übersiedelten, während über andere allenfalls im Asylverfahren zu entscheiden wäre.

      In ähnlicher Richtung dachte Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, mit dem ich am 5. September bei dem Bevollmächtigten der EKD, Bischof Binder, zu einem längeren Gespräch zusammenkam. Stolpe war gleichsam der Kardinalstaatssekretär der evangelischen Kirche in der DDR, ein eminent politischer Kopf mit feinem Gespür für Macht. Weniger ein Mann fester Prinzipien als der flexiblen Kompromisse, hatte er für seine Kirche die ambivalente Formel von der »Kirche im Sozialismus« gefunden, die als bloße Ortsbestimmung ebenso wie als Angebot zu einer begrenzten Kooperation mit dem kommunistischen System gedeutet werden konnte. Er vertrat die Kirche beim Staat und wohl auch diesen bei der Kirche, ohne daß seine kirchlichen Oberen vermutlich immer so genau wußten oder wissen wollten, wie weit er sich mit der anderen Seite eingelassen hatte.

      Stolpe kam regelmäßig zu Schäuble ins Bundeskanzleramt und berichtete aus seinen offensichtlich intensiven Kontakten mit staatlichen Stellen und mit Spitzenfunktionären der SED über die innere Lage in der DDR. Ich hatte dabei stets den Eindruck, daß er sich – wenngleich mit mentalen Vorbehalten – auf Dauer im sogenannten

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