Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990. Claus J. Duisberg

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Das deutsche Jahr - Einblicke in die Wiedervereinigung 1989/1990 - Claus J. Duisberg

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      Am 22. September kam deshalb Rechtsanwalt Vogel zu Minister Seiters. Er brachte eine Liste mit Namen von Personen mit, denen Anfang Oktober die Ausreise gestattet werden sollte, darunter die ersten der Zufluchtsuchenden aus der Ständigen Vertretung. Für die Flüchtlinge in den Botschaften Prag und Warschau stellte er bei freiwilliger Rückkehr eine Ausreisegenehmigung innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten, in Ausnahmefällen innerhalb eines Jahres in Aussicht. Er schlug dazu eine Vereinbarung in Form einer Niederschrift über von ihm, Vogel, sowie von Staatssekretär Priesnitz abzugebende Erklärungen vor. Er selbst könne erklären, daß für DDR-Bürger nach freiwilliger Rückkehr eine positive Lösung im regulären Ausreiseverfahren gefunden werde; zugleich spreche er die Erwartung der DDR aus, daß Wiederholungsfälle vermieden würden. Staatssekretär Priesnitz sollte erklären, daß in künftigen Zufluchtsfällen ausschließlich auf den Behörden- und Anwaltsweg verwiesen werde und daß im übrigen zu der Verabredung keine öffentliche Stellungnahme abgegeben werde; eine finanzielle Gegenleistung an die DDR stehe nicht zur Diskussion.

      Aus den bereits genannten Gründen konnten wir uns nicht darauf einlassen, Zusicherungen zu geben, wie sie Vogel offensichtlich anstrebte. Seiters würdigte deshalb zwar Vogels Bemühungen, bezeichnete eine Vereinbarung der vorgeschlagenen Art aber als problematisch. Letztlich komme es auch nicht auf die Bundesregierung an, sondern auf die Reaktion der Menschen. In Prag könnten Vertreter der Bundesregierung zwar sagen, daß es keine andere Lösung gebe, als auf das Angebot der DDR einzugehen; in Warschau sei das jedoch anders. Vogel insistierte, daß auch dort die »legale« Lösung auf jeden Fall die bessere sei, weil dann immer auch die Angehörigen und das ganze Umzugsgut mitgenommen werden könnten. Seiters blieb dabei, daß wir keine Vereinbarung treffen und in Warschau auch keine Erklärung mit dem von der DDR gewünschten Inhalt abgeben könnten. Vogels anfänglich zur Schau gestellter Optimismus verlor sich zusehends; er wirkte enttäuscht und betreten. Das einzige Ergebnis, das er schließlich mitnehmen konnte, war die Verabredung, daß er in den nächsten Tagen zuerst in Prag und dann in Warschau den Flüchtlingen selbst das Angebot der DDR vortragen könne.

      Am 26. September reiste Vogel nach Prag. In Anwesenheit von Bertele, Sudhoff und Priesnitz als Vertretern der Bundesregierung übermittelte er den Flüchtlingen die verbindliche Zusage der DDR-Führung, innerhalb der nächsten sechs Monate ausreisen zu können, wenn sie zunächst in ihre Heimatorte zurückkehrten. Doch nur 200 Flüchtlinge wollten sich darauf einlassen und stiegen in die bereitgestellten Busse. Die anderen wollten Vogel nicht einmal anhören, ja, er wurde zuletzt regelrecht niedergeschrieen. Für den so selbstgewissen Mann, der gewohnt war, daß alle Verfolgten der DDR ihre Hoffnungen auf ihn setzten, muß dies eine niederschmetternde Erfahrung gewesen sein. Bertele erzählte mir später, Vogel sei völlig verzweifelt gewesen und habe ernsthaft erwogen, alles aufzugeben. Zwei Tage später in Warschau war es fast noch ärger: Nur 50 Leute gingen auf sein Angebot ein, obwohl er hier die Ausreise schon in wenigen Wochen sowie die Mitnahme von Angehörigen und Umzugsgut in Aussicht stellte. Der Zauber war gebrochen; die Gebannten waren immun geworden. Vogel mag hier gespürt haben, daß nun auch seine Zeit auslief.

      Der Druck zu einer Lösung der Probleme in Prag und Warschau nahm unterdessen auf beiden Seiten zu. Besonders in der Botschaft Prag wurden die Lebensbedingungen zunehmend bedrängender, die hygienischen Verhältnisse waren kaum noch vertretbar; niemand wußte, was wir bei einem vorzeitigen Kälteeinbruch tun sollten. Auf der anderen Seite bereitete die DDR aufwendige Feiern zum 40. Jahrestages ihrer Gründung am 7. Oktober vor, zu denen Bilder von Flüchtlingen, die in westdeutschen Botschaften eingepfercht waren, schlecht passen wollten. Wir erwarteten deshalb, daß die DDR versuchen würde, die Lage vorher zu bereinigen. Am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen führte Außenminister Genscher in New York Gespräche mit dem tschechoslowakischen Außenminister, der aber auf die Zuständigkeit der DDR verwies, und mit DDR-Außenminister Fischer, der unbeweglich blieb. Genscher gelang es jedoch, den sowjetischen Außenminister Schewardnadse zu beeindrucken, wobei die humanitären Gesichtspunkte, aber auch sowjetisches Eigeninteresse eine wichtige Rolle spielten. Das sich zu einem internationalen Skandal entwickelnde Problem ihres wichtigsten Verbündeten war geeignet, auch das Ansehen der Sowjetunion selbst zu belasten, zumal Gorbatschow in wenigen Tagen als Ehrengast zu den Ost-Berliner Jubelfeiern reisen sollte.

      Nicht zuletzt auf sowjetisches Drängen lenkte die DDR schließlich ein. Am Morgen des 30. September, eines Samstags, überbrachte der Ständige Vertreter der DDR, Neubauer, Minister Seiters im Bundeskanzleramt das Angebot, in der folgenden Nacht Züge nach Prag und Warschau zu schicken, um alle Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland zu befördern, allerdings über das Gebiet der DDR. Zugesichert wurde, daß keine Kontrolle erfolgen sollte außer zur Feststellung der Identität und der Abgabe der Personalpapiere der DDR; gleichzeitig sollten Ausreisedokumente ausgegeben werden. Die DDR gehe im übrigen davon aus, daß die Ausreise unter völliger Diskretion ohne jede öffentliche Propaganda erfolge und daß nach dem Modell der Ständigen Vertretung in Berlin die Botschaften danach geschlossen blieben.

      Auf Nachfrage präzisierte Neubauer, der Verzicht auf Kontrolle bedeute freies Geleit. Er stimmte auch zu, daß Vertreter der Bundesregierung die einzelnen Zugtransporte begleiten könnten. Außenminister Genscher, der an dem Gespräch teilnahm, hatte betont, daß es gelte, bei den Flüchtlingen selbst um Vertrauen in die angebotene Lösung zu werben, und daß er und Minister Seiters deshalb in Prag mit ihnen sprechen und auch die Züge begleiten müßten. Zur Anwendung des von Neubauer so bezeichneten »Berliner Modells« erklärte Genscher aber gleich, daß die Bundesregierung mit der DDR keine Vereinbarung über ihre Vertretungen in Drittstaaten treffen könne.

      Nach Abstimmung mit dem Bundeskanzler bestätigte Seiters, daß die Bundesregierung zu der Aktion bereit sei, allerdings keine Gewähr für den Erfolg übernehmen könne; dies gelte besonders für Warschau. Er und Genscher würden in Prag mit den Flüchtlingen sprechen, um Vertrauen werben und auch die Zugtransporte begleiten. Als weitere Begleiter wurden Staatssekretär Priesnitz, die Ministerialdirektoren Kastrup und Jansen vom Auswärtigen Amt sowie der Büroleiter von Genscher, Elbe, und ich benannt. Staatssekretär Sudhoff und Staatssekretär Bertele sollten in Warschau mit den Zufluchtsuchenden sprechen.

      Wenige Stunden später waren wir in einem Flugzeug der Luftwaffe nach Prag unterwegs. Der Himmel war verhangen, und es dämmerte bereits, als wir vom Flugplatz hinunter in die Stadt zur Botschaft fuhren. Unsere Botschaft, das Palais Lobkowitz, glich einer eingeschlossenen Stadt. Ich hatte das Gefühl, noch nie so viele Menschen auf begrenztem Raum zusammen gesehen zu haben. Wohin man schaute, waren Menschen – Männer, Frauen, Kinder. Sie standen, saßen, hockten in den Hallen, Gängen und Sälen. Auf der breiten Barocktreppe konnte man kaum beide Füße nebeneinander setzen – rechts und links lagerten Menschen. In der Durchfahrt, auf den Gängen, wo immer sich Platz fand, waren dreistöckige Betten aufgeschlagen, aus denen uns erwartungsvolle Augen ansahen. Der große Garten war ein Zeltlager mit mehreren tausend Bewohnern. Die Zelte standen so gedrängt, daß in den Gassen gerade Raum war für die Halterungen. Es herrschte kein Lärm, aber auch nicht Ruhe; alles schien in ständig murmelnder Bewegung.

      Eine Oase der Abgeschiedenheit und Stille waren allein die Privaträume des Botschafters im obersten Stockwerk. Hermann Huber und seine Frau waren wochenlang der Bedrängung durch immer mehr Menschen ausgesetzt gewesen und hatten zusammen mit den Mitarbeitern der Botschaft in unermüdlichem Einsatz, mit Entschiedenheit und obendrein Humor das Leben dieser Zufallsgemeinschaft notdürftig zu regeln versucht und den Menschen Halt gegeben. Es war menschlich wie organisatorisch eine großartige Leistung, die dem deutschen Auswärtigen Dienst zur Ehre gereichte. Daß es ihnen gelungen war, ihren privaten Bereich intakt zu halten, habe ich zusätzlich bewundert.

      Zunächst erfuhren wir, daß Neubauer sich im Bundeskanzleramt bei Manfred Speck, dem persönlichen Referenten von Minister Seiters, gemeldet und mitgeteilt hatte, daß die Züge am selben Abend um 21.00 Uhr, 23.00 Uhr und 1.00 Uhr abfahren und jeweils eine Stunde vorher bereitgestellt werden sollten; ein vierter Zug werde in Reserve gehalten. Es bestünden keine Bedenken, wenn leitende Beamte die Züge begleiteten, eine Begleitung

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