Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden. Axel Stommel
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36Betriebsräte benennen allenfalls ein »Missmanagement« der Geschäftsleitung als verantwortlich für bevorstehende Entlassungen; Details in die Öffentlichkeit zu tragen ist ihnen versagt. Von den Geldvernichtungen durch Banken wie der Münchner Hypo Real Estate im Rahmen der letzten Wirtschafts- und Finanzkrise soll hier deshalb erst gar nicht die Rede sein.
5 Wer nicht investiert, verliert – am Ende gar die Demokratie
Dass die Ausgaben die Einnahmen bestimmen, gilt, wie gesagt, beim Staat generell, also keineswegs nur in Zeiten der Krise, sondern in schlechten wie in guten Zeiten. Art und Umfang der öffentlichen Aufgaben ihrerseits werden von der Gesellschaft im Interesse des gemeinen Wohls in Anbetracht der eigenen produktiven Kapazitäten jeweils aktuell und insofern historisch bestimmt. Die öffentlichen Aufgaben wachsen mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität – Schule, z. B., heute im Kernbereich staatlicher Zuständigkeit gelegen, ist erst vor rund 200 Jahren zur öffentlichen Aufgabe geworden, und seitdem ist diese Aufgabe beständig gewachsen sowie immer verzweigter und komplexer, folglich immer aufwendiger geworden.
In Bezug auf die staatliche Verantwortung für die Stabilisierung des Wirtschaftskreislaufs gilt Ähnliches.37 Informationstechnologie sowie Umwelt- und Klimaschutz schließlich sind Kinder unserer Tage; sie stellen dem Staat dauerhaft eine Vielzahl neuer, äußerst aufwendiger Aufgaben. Mit den Aufgaben wachsen beim Staat die Ausgaben; in ihrem Gefolge wachsen die Einnahmen, die benötigt werden, um die Aufgaben zu erfüllen (sogenanntes WAGNER’sches Gesetz der wachsenden Staatsquote38). Die Staatsaufgaben erfüllen aber heißt investieren, nämlich in die Erfüllung der staatlichen Aufgaben.
Und wer’s lässt, sprich: wer nicht investiert, verliert. Unter dem Motto unseres kanzleramtlichen »Auskommen mit dem, was da ist« wird Deutschland seit Jahren auf Verschleiß gefahren. Darin sind sich ausnahmsweise einmal alle einig, die sich näher mit dieser Frage beschäftigen. Die Infrastruktur zerfällt – Brücken zum Beispiel, Schulen, Polizei, Ordnungsämter, kommunale Behörden, die digitale Infrastruktur und manches mehr, um es bei Stichworten und der Erinnerung an FRATZSCHERs lange Liste39 zu belassen. Besonders teuer wird es, wenn man erst einmal den Anschluss verpasst hat. Für den Staat gilt deshalb grundsätzlich: Über ausgabenbestimmte Steuern zu aufgabengerechter Steuerung – kurz: Mit Steuern steuern. In jüngster Zeit stellt sich die Aufgabe mit einer bedeutenden Erweiterung dar; sie heißt nun: Mit Steuern klimasensibel steuern.
Mit Abstand sieht man die Verhältnisse oftmals besser; im Ausland wird unser andauerndes, tägliches Staatsversagen sehr wohl bemerkt. Unter der fetten Überschrift »Drittweltland Deutschland« vermerkt die Basler Zeitung beispielsweise süffisant: »Die Schweiz täte gut daran, Deutschland künftig als Drittweltland einzustufen, insbesondere wenn es dort um Infrastruktur und Verkehrspolitik geht. Die Schweiz muss sich deshalb überlegen, ihr Entwicklungshilfebudget aufzustocken…«40 Der Anteil der öffentlichen Investitionen am Bruttoinlandsprodukt liegt in Deutschland seit Jahrzehnten bei maximal 2,4 %. Mit dieser Quote ist Deutschland, der Konkurrenz in EU und OECD abgeschlagen hinterherhinkend, zum verlässlichen Träger der roten Laterne geworden.41
Außerdem ist zu bedenken, dass nur Reiche sich einen armen (»schlanken«) Staat leisten können; körperliche und soziale Sicherheit, leistungsfähige Kinderbetreuungs-, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, intakte Gesundheits-, Notdienste sowie Infrastrukturen, die für alle zugänglich sind, im Verein mit einer hohen »sozialen Durchlässigkeit«, sprich zusammen mit guten Aufstiegschancen für Begabte, sind Faktoren, die für das Wohlbefinden der einzelnen Gesellschaftsmitglieder genauso wichtig sind wie für die produktive Entwicklung der jeweiligen ortsansässigen Wirtschaft.
Gute öffentliche Dienste in entsprechend ausgestatteten, meint: ausfinanzierten Staaten sind entscheidende Gründe dafür, dass die Menschen in Skandinavien regelmäßig als die am meisten entspannten, zufriedenen, mit ihren heimischen Gemeinschaften verbundenen, mit einem Wort: als die glücklichsten Gesellschaften dieser Welt abschneiden – allen Wettern und den schier endlosen, dunklen nordischen Wintern zum Trotz. Die Menschen dort können mit 73,6 Jahren gesunden Lebens rechnen, während sich ein Deutscher damit zufrieden geben muss, durchschnittlich 54,5 Jahre in Gesundheit zu erleben.42 Eine vergleichsweise hohe, sozial abgestimmte Besteuerung nehmen sie im rauen Norden für solch angenehme Lebensverhältnisse einsichtig in Kauf.
Denn bei den öffentlichen Gütern ist kollektives Handeln mit gebündelten Ressourcen isoliertem, individuellem Handeln weit überlegen – deshalb sind sie ja gerade zu öffentlichen Gütern geworden: Lernen in der Schule etwa ist billiger, besser und mit seinen sozialen Dimensionen umfassender als beim Hauslehrer, Krankenhäuser sind leistungsfähiger und kostengünstiger als Leibärzte, die Polizei kümmert sich flächendeckend wirksamer und billiger um Sicherheit als private Wachdienste und Bürgerwehren, um es bei drei Beispielen zu belassen.
Gute öffentliche Güter sind also das Erfolgsrezept. Sie nämlich sind Ursache für eine höchst bedeutsame Leistung: die ständige Reproduktion von sozialem Zusammenhalt sowie die Identifikation, das Heimisch-Werden der Menschen in Kommune, Staat und Gesellschaft. Ein Staat, der darin investiert, floriert; wer’s lässt, verliert. Und zwar am Ende nicht nur den Anschluss, sprich die Wirtschaftskraft, sondern letztlich gar die Demokratie.
37Weiter ausgeführt in Kapitel 13 u. S. 97 ff.
38ADOLF WAGNER, Grundlegung der Politischen Ökonomie, Teil I, Grundlagen der Volkswirtschaft, 3. Auflage, Leipzig 1893, S. 893 f.: »Aber auch seine [des Staates – AS] relative Bedeutung steigt, d.h. eine immer grössere und wichtigere Quote der Gesammtbedürfnisse eines fortschreitenden Culturvolks wird durch den Staat statt durch andere Gemeinwirtschaften und Privatwirtschaften befriedigt.«
39S. o. S. 16.
40Basler Zeitung vom 18.8.2017.
41Mehr dazu findet man laufend in der Presse sowie komprimiert bei AXEL STOMMEL, Basics…, S. 22–29. Beim Doyen der katholischen Wirtschafts- und Soziallehre, FRIEDHELM HENGSBACH SJ, ist dazu zu lesen: Der öffentliche »Vermögensabbau ist verursacht durch eine rückläufige Investitionstätigkeit des Staates, den Wertverlust der öffentlichen Infrastruktur, den Verkauf öffentlichen Vermögens an Private, durch höhere Sozialabgaben und die Finanzierung des Aufbaus Ost. Dem Schrumpfen des öffentlichen Vermögens stehen die beträchtlichen Zuwächse des Nettovermögens der privaten Haushalte gegenüber… Öffentliche Armut korrespondiert mit einem exzessiv zugelassenen und geförderten privaten Reichtum.« (FRIEDHELM HENGSBACH, Teilen, nicht töten, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2015, S. 26.)
42Der deutsche ist der viertschlechteste Wert in der EU; bei über 65-Jährigen sinkt die Lebenserwartung in Deutschland derzeit. Quelle: Social Justice in the EU – Index-Report 2016, zitiert nach KARL LAUTERBACH, Ungleichverteilung von Gesundheitschancen, S. 3, https://www.karllauterbach.de, zuletzt aufgerufen am 2.12.2019. An dieser Stelle wird der Personalmangel im öffentlichen Dienst bereits vor Corona direkt lebensbedrohlich: »›Das deutsche Gesundheitssystem hat ein ernsthaftes Problem‹, sagte Wissenschaftsstaatssekretär Thomas Wissen… ›Auch die beste Hochschulklinik Deutschlands ist nicht gegen den bundesweit herrschenden Personalmangel immun.‹« (Der Tagesspiegel vom 6.2.2020,