Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden. Axel Stommel
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Dass sich mit den überschüssigen, weil nicht verausgabten Milliarden keineswegs all jene Projekte finanzieren und all jene Mängel beseitigen lassen, die MARCEL FRATZSCHER auf seine auszugsweise wiedergegebene lange Liste gesetzt hatte, liegt auf der Hand. Dabei ist FRATZSCHERS Liste noch nicht einmal vollständig.
Demgemäß fällt auf, dass klimawandelbedingte Investitionen fehlen. Das freilich entspricht dem Stand der wirtschaftswissenschaftlichen Praxis – cosi fan tutte/so machen’s alle (etwaige Ausnahmen bestätigen die Regel). Alsdann fehlen in FRATZSCHERs Liste so wichtige Positionen wie der erbarmungswürdige innere und äußere Zustand unserer Schulen, Hochschulen, der Jugendämter, der Gesundheitsämter, der Lebensmittelüberwachung, der Justiz und der Polizei, die Beseitigung der verheerenden Ausrüstungs- und sonstigen Mängel einer Bundeswehr, bei der kaum etwas fährt, schwimmt oder fliegt, halbwegs angemessene Mittel für die Entwicklungshilfe, die Entschuldung der vielen weiterhin notleidenden Kommunen, die Entwicklung des ländlichen Raumes einschließlich seiner zwölf Millionen zunehmend abgehängter Bewohner sowie die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ganz allgemein.13
Alle genannten Sachverhalte stehen selbst wieder nur stellvertretend für weitere Auf- respektive Ausgaben, die in FRATZSCHERs Mängelliste fehlen – trotz ihrer Länge ist sie zu kurz geraten, zumal es sich bei den soeben genannten Positionen ausnahmslos um ureigene Staatsaufgaben handelt. Dabei kann man dem Staatsapparat nicht einmal vorwerfen, dass er vor seinen Aufgaben weitgehend versagt. Denn sein Versagen ist maßgeblich jener Unterfinanzierung geschuldet, der er seit Jahrzehnten ausgesetzt ist; unter dem Einfluss des Schönheitsideals maßgeblicher gesellschaftlicher Gruppen, die höchstes Gefallen an einem »schlanken«, treffender: einem abgemagerten, schwachen, verschuldeten Staat finden, der ihnen nicht gewachsen ist, ist das Wachstum seiner Einnahmen weit hinter das Wachstum seiner Aufgaben, folglich auch seiner Ausgaben zurückgefallen.
FRATZSCHERs Liste muss deshalb unbedingt um einen weiteren Sachverhalt ergänzt werden. Dieser Sachverhalt nimmt sogar eine Schlüsselposition ein. Er heißt: »Aufstockung und abgestimmte, ertüchtigende Entwicklung der öffentlichen Verwaltung« in ihren verschiedenen Gliederungen und auf ihren verschiedenen Ebenen. »Wir haben zu wenig Personal«, erschallt die Klage überall – auf der Geburtsstation, bei der Lebensmittelüberwachung, in den Gerichtsstuben, vor allem aber in der Verwaltung im engeren Sinn. Hier sind im Zuge der jahrzehntelangen Sparpolitik grundlegende Sach-, Verfahrens- und Organisationskenntnisse und -erfahrungen verloren gegangen, am Ende sogar der Anschluss – die Digitalisierung der Verwaltung zum Beispiel ist ganz offensichtlich grob vernachlässigt worden. Funktionierende Ämter? »Stimmt, es gibt solche Fälle. Aber sie sind die Ausnahme und nicht die Regel«, konstatiert Der Tagesspiegel, kein durch eine systemkritische Haltung aufgefallenes Blatt, recht nüchtern auf Seite 1;14 und Die Welt schlägt Alarm: »Öffentlicher Dienst: ›Wir steuern auf einen Systemkollaps zu‹«.15
Deshalb stauen sich die diversen Mängel dort; der öffentliche Dienst stellt gewissermaßen das Tor dar, durch das viele Posten auf den langen Aufgabenlisten hindurch müssen, wenn sie erledigt bzw. wenigstens endlich in Gang gesetzt werden sollen. Ohne Aufstockung und qualifizierender Entwicklung der öffentlichen Verwaltung droht dieses Tor zum Nadelöhr zu werden.
Hinzu kommt, dass die Mängelverwaltung von den Menschen in Stadt und Land zunehmend als alltägliches Staatsversagen wahrgenommen und »populistisch« verarbeitet wird. Wer kann es den Menschen verdenken,
•wenn reihenweise Schwimmbäder schließen, weil Geld für Bademeister und Instandhaltung fehlen,
•wenn nach dem Muster der deutschen Hauptstadt Heiratswillige monatelang auf einen Termin beim Standesamt, die Eltern von Neugeborenen monatelang auf Geburtsurkunden warten, die ihnen erst das Antragsrecht auf verschiedene gesetzliche Leistungen eröffnen,
•wenn ein den sozialen Zusammenhalt gefährdendes, privates Schul- und Hochschulwesen als schichtenspezifischer Ausweg aus der Misere der öffentlichen Schulen und Hochschulen erblüht,16
um es bei drei Beispielen zu belassen? Staatsversagen gebiert Staatsverdruss. Dass es gerade die Kommunen am unteren Ende der Finanzierungskette sind, aus denen die Zivilgesellschaft ihre Kraft bezieht, wird dabei je nach Einschätzung entweder großzügig oder dümmlich-verblendet übersehen.
Investitionen in eine quantitative, qualitative sowie organisatorische Sanierung und Entwicklung des öffentlichen Dienstes sind – um zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurückzukehren – jedoch vor allem deshalb so dringend, weil es ja gerade die Mängel der langsamen und widersprüchlichen öffentlichen Planung, Umsetzung und Verwaltung sind, welche die verspätete, unzureichende, fehlerhafte bzw. ausbleibende öffentliche Auftragsvergabe sowie die daraus resultierenden, aktuellen öffentlichen Haushaltsüberschüsse maßgeblich verursachen.
In einer verdienstvollen Untersuchung hat CORNELIA HEINTZE die Personalausgaben für den öffentlichen Dienst in Deutschland mit denjenigen Ausgaben verglichen, die zum einen im kontinentaleuropäischen, zum anderen im skandinavischen Durchschnitt in den Jahren 1996–2016 verzeichnet sind.17 Im kontinentaleuropäischen Durchschnitt hat sie die Länder Österreich, Belgien, Frankreich, die Niederlande und die Slowakei zusammengefasst, im skandinavischen die Länder Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden. Sodann hat sie ermittelt, um welche Beträge Deutschland hinterherhinkt bzw. wie viel es Deutschland kostet, den jeweiligen Durchschnittswert zu erreichen.
Das Ergebnis lautet: Um kontinentaleuropäisches Mittelmaß zu erreichen, hätte Deutschland 2016 117,2 Milliarden Euro mehr in sein Verwaltungspersonal, seine Entwicklung sowie seine sachliche und räumliche Ausstattung investieren müssen; um skandinavisches Niveau zu erreichen, wären sogar Mehrausgaben in Höhe von 221,2 Milliarden Euro erforderlich gewesen.18
Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache.19 Sie lautet:
1.Die besagten deutschen Haushaltsüberschüsse sind zu einem erheblichen Teil Folgen seiner unterfinanzierten öffentlichen Dienste – die Überschüsse sind eine Mangelerscheinung, schmälern den Wohlstand und behindern die sozioökonomische Entwicklung des Landes.
2.Um die Mängel, sprich die Überschüsse zu beseitigen und wieder eine öffentliche Verwaltung aufzubauen, die dem Entwicklungsstand des Landes entspricht, werden Mittel namentlich für Personal, Personalentwicklung und Organisation benötigt, welche die wegfallenden Überschüsse weit übertreffen.
Fazit: Die fraglichen Haushaltsüberschüsse stellen die einleitenden Ausführungen über die besorgniserregende Unterfinanzierung des deutschen Staates und seine seit Jahrzehnten praktizierte Sparpolitik nicht in Frage. Vielmehr unterstreichen sie die vorangehenden Ausführungen. Es klingt verwirrend, aber diese Überschüsse sind eine Erscheinungsform der Unterfinanzierung unseres Staates.
Leider stellen solche Haushaltsüberschüsse jedoch stets auch ein Geschenk für all jene dar, die auf oberflächliches Unverständnis bauen und selber an einem schwachen, abgemagerten Staat politisch bzw. ökonomisch, letztlich finanziell interessiert sind. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Es lohnt, einen kurzen Blick auf das zu werfen, was die Berliner Politik mit dem unverhofften Jahresüberschuss geplant hatte, bevor Corona alle Pläne über den Haufen warf. Und zwar sollten 500 Millionen Euro an das Verteidigungsministerium gehen, ein Teil in die Asylrücklagen; 17 Milliarden Euro wollte Finanzminister OLAF SCHOLZ investiert sehen; wo, blieb noch offen. Wirtschaftsminister PETER ALTMAIER plädierte für