Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden. Axel Stommel
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Zwar gehört wahrlich nicht viel dazu, um zu erkennen, dass ALTMAIERS Plädoyer absolut keinen Beitrag zur Modernisierung der Wirtschaft darstellt, sondern die soziale Spaltung der Gesellschaft weiter vorantreibt. Trotzdem wurde der Wirtschaftsminister vom scheidenden Vorsitzenden des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, zugleich Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, CHRISTOPH SCHMIDT, nach Kräften unterstützt. Der nämlich erklärte zur Verwendung der Überschüsse: »Neben einer Senkung der Unternehmenssteuern wäre die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlages eine Möglichkeit, rasch die richtigen Weichen zu stellen.«20 Davor, dass die Überschüsse auf die mangelhafte Leistungsfähigkeit eines unterfinanzierten Staates zurückzuführen sind, verschlossen die hochrangigen Steuersenkungsbefürworter in bewährter Entschlossenheit die Augen. »Nicht mal ignorieren«, wie man in Wien sagt, lautet die Maxime ihres Verhaltens.
Das Extremereignis: Corona als epochale, exogene Herausforderung
Doch dann kam Corona wie aus heiterem Himmel.21 Mit der Kraft der Kleinen, Winzigen machte es Plänen und Berechnungen auf einen Schlag den Garaus. Aus den 17 bzw. 37 Mrd. Euro Überschuss wurden innerhalb von drei Wochen 600 Milliarden Euro Neuverschuldung.22 Außerdem überfällt die Pandemie eine ausgezehrte Verwaltung im Allgemeinen und ein Gesundheitswesen im Besonderen, das seit Jahren verstärkt Rentabilitätskriterien unterworfen ist. Das Ergebnis: eine Offenbarung, erschreckend; für ganze Regionen der Verwaltung gilt: Land unter; die schönen Überschüsse: Peanuts, den Bach runter; das hochwillkommene Steuersenkungs-Argument für die Freunde des abgemagerten Staates: zerfetzt und vom Winde verweht.
Im Gesundheitswesen, in weiten Teilen zur Privatisierung freigegeben, zeigt sich der Schaden über Nacht; schon am nächsten Morgen tritt zutage, dass das ganze Anreizsystem für Krankenhäuser, Pharmaindustrie und Personalrekrutierung verfehlt ist, ja dass es an der simpelsten Schutzausrüstung für das Klinikpersonal mangelt. Die medizinische Versorgung muss eingeschränkt werden, es droht eine ›Triage‹, d. h. eine Patientenauswahl nicht nach medizinischen Erwägungen, sondern nach denen der Kapazität. Wer soll die wenigen, verfügbaren Schutzmasken erhalten: Die Altenheime, in denen besonders viele Tote zu beklagen sind, die Krankenhäuser, die Gesundheitsämter, die niedergelassenen Ärzte…? Die bayerische Landesregierung verfügt, dass in Bayern produzierter Mundschutz ausschließlich in Bayern veräußert werden darf. In Apotheken wird Kunden anfangs empfohlen, aushilfsweise Heftpflaster der Größe 4 auf den Mund zu kleben.
Plötzlich wird bekannt, dass Deutschland, einst die Apotheke der Welt, infolge bedenkenloser Produktionsverlagerungen in eine fatale Abhängigkeit von chinesischen und indischen Pharmaherstellern geraten ist; einzelne Medikamente werden knapp. Währenddessen fließen Krankenhauskeime ungefiltert in Kanäle und Oberflächengewässer. Die personellen Untergrenzen und Qualifikationen auf Intensivstationen, so erfährt eine erstaunte Öffentlichkeit, können schon im Normalbetrieb nicht eingehalten, die Beatmungsgeräte, soweit vorhanden, nicht rundum sachgerecht bedient werden – wie erst bei Überlast? Personalknappheit in Gesundheitswesen und Altenpflege ist eh schon Dauerthema.
Als »(d)ie offizielle Zahl der Infizierten [am 16. März in der deutschen Hauptstadt] auf 15 Fälle steigt, … sind die bezirklichen Gesundheitsämter damit überfordert, alle Kontaktpersonen zu informieren. Menschen waren tagelang in ihrer Wohnung auf Tests«, notiert Der Tagesspiegel.23 Wer kein Symptom aufweist, wird nicht getestet, und wer eins aufweist, muss Glück haben. Und das, obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) »testen, testen, testen« als erfolgreichste Maßnahme empfiehlt, um die Entwicklung in den Griff zu bekommen.24 Eine repräsentative Stichprobe testen? Ausgeschlossen. Eine Weile später lobt man sich dafür, dass man es geschafft habe, die Kapazität enorm zu erhöhen (auf täglich 3.000 Tests). Der Sonntagskolumnist des Tagesspiegel hat nachgerechnet: »Nach spätestens drei, vier Jahren ist jeder an die Reihe gekommen. Leute, die krank wurden oder tot sind, brauchen ja keinen Test mehr. Anderswo gibt es Drive-ins. Man fährt im Auto hin (oder lässt sich fahren), es ist sicher, dauert Minuten« und sei enorm effizient, konstatiert er konsterniert auf Seite 1.25
Aber dieses Anderswo liegt im Fernen Osten. Noch wochenlang lässt man Flugzeugreisende aus Hochrisikogebieten ohne jede medizinische Kontrolle ins Land, die im Flugzeug auszufüllenden Informationsbögen sammelt mangels Zuständigkeitsregelung niemand ein.26 Der Planungshorizont rückt auf Tagesdistanz heran: »Die Berliner Polizei steht, Stand heute, absolut stabil und ist gut ausgerüstet«, versichert die Polizeipräsidentin in beruhigender Absicht auf Seite 1 der Tagespresse.27
Das medizinische Personal wird in Deutschland, einem der reichsten Staaten dieser Erde, ohne auch nur halbwegs angemessene Schutzkleidung in den Kampf gegen das Virus geschickt. Weil kein Mundschutz für die Bevölkerung verfügbar ist, obwohl das Robert-Koch-Institut noch 2013 darauf hingewiesen hatte, wird dessen Sinnhaftigkeit anfangs offiziös bestritten. Gleichwohl veröffentlichen Massenmedien Bastelanleitungen für einen Basis-Mundschutz im Eigenbau – eine fast schon kuriose Variante der von Corona ins Spiel gebrachten Deglobalisierung.
Im Schengenraum verriegelt man die nationalen Durchgangstüren, dasselbe übrigens auch zwischen einzelnen Bundesländern, ja sogar zwischen einzelnen Landkreisen (in der Ostprignitz dürfen sich nur noch als ansässig gemeldete Ostprignitzer aufhalten, selbst auswärtige Ferienhauseigentümer dürfen ihr Eigentum nicht mehr betreten), der Warenverkehr wird gestaut, Lieferketten zerbrechen, die schöne Just-in-time-Belieferung28 wird auf einmal kritisch hinterfragt. Kooperation, international, regional? Geht unter im ubiquitären Aufschrei des »Wir zuerst«; engste Verbündete bezichtigen einander der Schurkenstaaterei;29 die Erosion der EU- & Euro-Vision schreitet weiter voran.30
Außerhalb des Gesundheitswesens können 200.000 Stellen für Spezialisten und Experten im Öffentlichen Dienst, darunter Amtsärzte, seit Jahren zu den Gehältern, die von Amts wegen gezahlt werden, nicht besetzt werden; die Justiz steht mit der weißen Fahne in der Hand kurz vor der Kapitulation, wichtige Prozesse werden ohne Urteil eingestellt.31 Eine Kuriosität am Rande: Kurzzeitig wurde in Fachkreisen in Erwägung gezogen, ein Bedingungsloses Grundeinkommen zeitlich befristet einzuführen, und zwar schlicht und einfach deshalb, weil die Verwaltung wohl kaum in der Lage sei, sachgerechte Bedingungsprüfungen durchzuführen. Die Mängelliste ließe sich seitenweise fortführen.
Eine Verwaltung aber, die außer Stande ist, Einreisekontrollen auf Flughäfen, Atemmasken, Desinfektions- und Testmittel zu organisieren und repräsentative Testungen u. a. durchzusetzen, ist gezwungen, entschlossene Handlungsfähigkeit mit Hilfe autoritärer Verordnungen unter Beweis zu stellen. Fabrikschließungen, Kontaktverbote, Ausgangssperren – die große Stilllegung (»Lockdown/Shotdown/Shutdown«) zu verordnen fällt ihr unter den gegebenen Umständen deutlich leichter als Atemmasken zu beschaffen, ein Tempolimit auf Autobahnen, ein Werbeverbot für die tödliche Droge Tabak durchzusetzen, den unsäglichen säkularen sanitären Notstand in deutschen Schulen zu beenden oder eine sach- und sozialgerechte Erbschaftsteuerregelung zu gewährleisten.
Um es gehörig zuzuspitzen: Stilllegung der Wirtschaft und physische Distanzierung der Menschen mit all ihren wirtschaftlichen und persönlichen Folgen müssen als bitterer Ersatz für unzureichende Tests, Schutzausrüstungen, Fachpersonal und Krankenhausausstattungen herhalten, damit die Kurve der neu Infizierten abflacht und die diversen Kapazitätsgrenzen und Mängel überbrückt werden können. Eine komplette Verkehrung der Verhältnisse: Bettenzahl und Testkapazität verfügen über Wirtschaft und Gesellschaft! Und enorm kostspielig, dieses Verkehrt-herum!32
Flankierend wird der Regierung die verheißungsvolle Verkündung froher Botschaften wie »Deutschland wird aus der Krise gestärkt herauskommen«, verbunden mit dem Hinweis, man mache es besser als der Nachbar, zum billigen Anfangsgebot der Stunde.
Sowie gigantische Kreditausweitung, Staatsverschuldung und Geldflutung – auch das in der Stunde