Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden. Axel Stommel
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Hinter diesem Feuerwerk zweifelsfreier, dringend behandlungsbedürftiger Zu- bzw. Missstände verschwindet der bloße Gedanke daran, dass es lohnend sein könnte zu prüfen, ob die dringenden öffentlichen Aufgaben auch anders finanzierbar sind, nämlich aus ordentlich vollzogener sowie sach- und leistungsfähigkeitsgerecht gestalteter Besteuerung; das Für und Wider der Finanzierungsalternativen abwägend zu bedenken, entfällt damit wie von selbst, gewissermaßen automatisch.
Folglich denkt man nicht an die Konsequenzen, die der Austausch von Steuereinnahmen gegen Verschuldung hinter sich herzieht. Vielmehr erscheinen Kreditaufnahmen, Lockerung der Schuldenbremsen bzw. das Ende der Schwarzen Null, mit einem Wort: neue Staatsverschuldung schlicht und einfach als alternativlos, um sicherzustellen, dass der Staat in der Lage bleibt bzw. in die Lage kommt, seine wachsenden Aufgaben einigermaßen ordentlich zu erfüllen. In ihrer unauffälligen Präsentation als scheinbare Selbstverständlichkeiten rufen die Verschuldungsplädoyers naturgemäß keine Bedenken hervor – Selbstverständlichkeiten bedenkt man nicht, erst recht nicht, wenn sie eh schon alternativlos erscheinen. Kurz: Vermehrte staatliche Verschuldung erscheint erstens alternativlos sowie zweitens im allgemeinen Interesse; sie ist daher unbedingt zu begrüßen, mehr noch: Es sieht so aus, als wäre öffentliche Verschuldung von jedem zu fordern, der sich Gedanken um die Zukunft macht.
Auf diesem Wege kann die Botschaft von der guten, der fortschrittlichen Verschuldung die Strecke zur Duldung, wenn nicht gar zur handlungsleitenden Überzeugung widerspruchslos und unkontrolliert passieren, obendrein ohne dass es überhaupt jemand merkt.
Widerspruchslos, unkontrolliert und unbemerkt – diese Kombination ist bedenklich, wenn es um gewichtige Alternativen der Wirtschaftspolitik geht, nämlich um Fragen der Finanzierung unseres Staates und seiner durch seine Finanzlage bestimmten wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume. Denn, von der Entwicklung unserer natürlichen Umgebung mitsamt Klima sowie den Fragen von Krieg und Frieden abgesehen, gilt: Nichts, rein gar »nichts beeinflusst den Wohlstand einer Nation und ihrer Menschen mehr als die Wirtschaftspolitik.« (JOSEPH STIGLITZ)5
Zwar steht außer Frage, dass Staatsschulden kein Teufelswerk sind, wie die verbliebenen, hartgesottenen Anhänger der Sparpolitik glauben mögen. Aber daraus folgt keineswegs zwingend, dass eine umfassende, situationsunabhängige, prinzipielle Abkehr von Schuldenbremse und Schwarzer Null geboten ist.
Warum nicht? Zunächst ganz einfach deshalb, weil die allgemein verbreitete Gleichsetzung von Schuldenbremse bzw. Schwarzer Null mit Austeritäts- bzw. Sparpolitik auf einem erstaunlichen, weil leicht erkennbaren Denkfehler beruht.
Der Denkfehler gehört vorab korrigiert, damit man alsdann fehlerfrei weiterdenken kann. Die Korrektur erfolgt in Kapitel 3. Sie wird kurz und schmerzlos zu bewerkstelligen sein.
Um zu verhindern, dass zum einen ein bedenklicher Sonderfall sowie zum anderen das Corona-Extremereignis den Blick auf das Allgemeine, Regelmäßige verstellen, werden jedoch zuvor das Phänomen der zeitweiligen deutschen Haushaltüberschüsse sowie einige Aspekte der Coronakrise näher betrachtet, um beide sachgemäß einordnen zu können.
2TOM KREBS, Jenseits der schwarzen Null: Die Schuldenbremse, die wir brauchen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10/19, S. 12.
3Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat sogar erstmals zusammen mit seinem Pendant auf Arbeitgeberseite, dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) ein gemeinsames »Policy- Paper« verfasst. Das Papier trägt den Namen »Für eine solide Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen!«, und plädiert, anders als der Titel vermuten lässt, engagiert für die Aufgabe von Schuldenbremse und Schwarzer Null zugunsten erhöhter Neuverschuldung.
Von der Friedrich-Ebert-Stiftung, die der SPD nahesteht, wurde dieses politische Statement noch unmittelbar vor Ausbruch der Corona-Epidemie mit einem Sonderpreis der Hans-Matthöfer-Stiftung für Wirtschaftspublizistik 2020 ausgezeichnet.
4In: Der Tagesspiegel vom 17.12.2019, S. 15.
5JOSEPH STIGLITZ, Europa spart sich kaputt – Warum die Krisenpolitik gescheitert ist und der Euro einen Neustart braucht, München 2016, S. 93.
2 Ein bedenklicher Sonderfall und ein Extremereignis: Haushaltsüberschüsse als Mangelerscheinung, Corona als äußerliche Herausforderung
Der Sonderfall: Haushaltsüberschüsse als Mangelerscheinung
2019 war es soweit: Nachdem der deutsche Bundeshaushalt seit fünf Jahren erstmals nach Jahrzehnten wieder mit einer Schwarzen Null abgeschlossen hatte, erzielte der Bund im ersten Halbjahr 2019 plötzlich sogar einen Überschuss von 17,7 Milliarden Euro.6
Der Bundesfinanzminister war von dieser Entwicklung keineswegs begeistert. Überschüsse zu erzielen war weder seine Absicht noch ist es seine Aufgabe; wie später noch zu begründen sein wird, soll ein Finanzminister vielmehr grundsätzlich und deshalb sogar grundgesetzlich einen ausgeglichenen Haushalt, sprich: die Schwarze Null anstreben. Außerdem hatte der Finanzminister zuvor wiederholt vor Haushaltsrisiken gewarnt: Die fetten Jahre seien vorbei, 2019 drohe eine globale Konjunkturschwäche. Mit ihrer extremen Exportorientiertheit – Deutschland stellt seit Jahren den Weltmeister im Exportüberschuss7 – ist die deutsche Wirtschaft bei globalen Wirtschaftseinbrüchen besonders leicht verwundbar.
Tatsächlich war der Haushaltsüberschuss auch gar nicht auf unerwartet hohe Einnahmen zurückzuführen, sondern in erster Linie darauf, dass bewilligte Ausgaben in großem Umfang nicht abgerufen worden waren. Dies wiederum hatte im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen hatte sich die seit Jahren ausgedünnte öffentliche Verwaltung außer Stande gezeigt, ihre Planungen bis zur Vergabereife zu führen; zum anderen fehlte es, soweit es sich um vergabereife öffentliche Baumaßnahmen handelt, immer wieder an Bauunternehmen, die über hinreichende freie Kapazitäten verfügen.
Exemplarisch: »Jeder dritte Euro für den Schulbau bleibt liegen«, notiert Der Tagesspiegel auf Seite 1 aus der deutschen Hauptstadt und fährt mit seinem Bericht aus der vergleichsweise beschaulichen, vorcoronaischen Zeit fort: »Von knapp 360 Millionen Euro blieben demnach allein 2018 rund 120 Millionen Euro liegen… Als Gründe für die Verzögerungen nennen die Bezirke Personalmangel, Insolvenzen und unwirtschaftliche Angebote. In rund 100 Fällen blieben Angebote sogar ganz aus. ›Die Liste erfolgloser Ausschreibungsverfahren zeigt ganz deutlich: Ausschreibungen müssen vereinfacht und Verfahren entbürokratisiert werden.‹«8
Ein Beispiel von brutaler Banalität: »Entschleunigung – Seit Jahren stockt die Erweiterung der Busspuren. Den Bezirken fehlt das Personal für die Markierungen.«9 Seit 2001 sind deshalb lediglich Busspuren in der Länge von 6,5 Kilometer in der deutschen Hauptstadt hinzugekommen, also durchschnittlich 361 Meter pro Jahr; die Fahrpläne mancher Linienbusse sind Makulatur. Der Ausbau des Fahrradwegenetzes wartet mit ähnlichen Zahlen auf.10 Ausführungen deutlich höherer Komplexität, darunter Beispiele dafür, wie einer öffentlichen Verwaltung in den Jahren der marktradikalen Verblendung ganze Organisations- und Steuerungsfähigkeiten hoffentlich nicht unwiderruflich abhandengekommen sind, findet man in schöner Sammlung z. B. in der »Ökonomie des Alltagslebens«, insbesondere im Kapitel zur »Begutachtung der Schäden«.11