Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch. Группа авторов

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Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch - Группа авторов Christentum und Zeitgeschichte (CuZ)

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Zeit unter dem Begriff der Diakonie subsummiert wurde und im 19. Jahrhundert mit dem neu geschaffenen Synonym als Innere Mission (IM) bezeichnet wurde, erlebte mit dem Ersten Weltkrieg eine grundlegende Zäsur. Die freien Träger waren kriegsbedingt überfordert, die gewährte staatliche Hilfe manifestierte einen öffentlichen Einfluss auf die Wohlfahrtspflege, aus dem langfristig das »duale System« des deutschen Sozialstaats hervorging. Zudem bot die verfassungsrechtlich offene Situation nach Kriegsende die Möglichkeit, christlich-soziale Ideen in den neuen Kirchenverfassungen zu verankern.

      Die IM expandierte, in diesem Zusammenhang gab sich der Centralausschuss für IM 1921 eine neue, an die veränderten Bedingungen angepasste Ordnung, die den Weg für die Entwicklung zum Spitzenverband frei machte. Der umfassende Strukturwandel in der IM fand einen adäquaten Ausdruck in der Betheler Botschaft von 1924, die als soziale Kundgebung ohne parteipolitische Berührungsängste und in Abkehr einer monoperspektivischen Staatsfixierung sich erstmals dem Wohl des Volksganzen verschrieb. Erst die finanziell und personell reduktionistischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise schwächten den Sektor der Diakonie nachhaltig und gaben der IM zu Beginn der NS-Zeit keine günstige Ausgangssituation.

       6. Protestantismus und Antisemitismus

      Für die deutschen Juden in der Weimarer Republik hatten sich bereits in der Kaiserzeit wegweisende, dabei ambivalente Entwicklungen ergeben. Einerseits galten sie seit 1871 nach der Reichsverfassung als gleichberechtigte Bürger, die jüdischen Gemeinden blühten auf und zahlreiche Synagogen wurden neu gebaut. Andererseits nahm der gesellschaftlich verbreitete Antisemitismus zu. Der Historiker Heinrich von Treitschke (Antisemitismusstreit) und der Berliner Hof- und Domprediger mit politischen Ambitionen Adolf Stoecker standen exemplarisch für einen Antisemitismus, der sich gesellschaftlich bis weit in akademische und kirchliche Kreise ausbreitete.

      Der seit der Jahrhundertmitte zunehmende deutsche Nationalismus und die auf blühenden Naturwissenschaften stellten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Nährboden für einen rassischen Antisemitismus bereit. Unter dem Einfluss des französischen Schriftstellers Arthur de Gobineaus und anderen Rassetheoretikern etablierte sich die Vorstellung von den Zeitläufen als Kampf der Rassen; früh stand in diesen Kreisen fest, dass der ›weißen Rasse‹ die Führungsrolle zufiel. Die Geschichte von Völkern und Nationen wurden reduktionistisch auf den Kampf zwischen Rassen zurückgeführt. Die sprachliche Zuspitzung im deutschen Reich war bezeichnend: Das Judentum war nicht länger eine minderwertige Rasse unter anderen, sondern es wurde zur Gegenrasse, zu einem fundamentalen Gegenprinzip des Eigenen stilisiert. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand sich in deutschen Rassediskursen die vorherrschende Vorstellung vom unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der »arischen« und der »jüdischen Rasse«, der in der antisemitischen Vorstellungswelt zwangsläufig auf einen Überlebenskampf zwischen diesen beiden Rassen hinauslief.

      In der Weimarer Gesellschaft war demnach von Beginn an nicht nur ein starker traditioneller Antisemitismus mit jahrhundertealten Stereotypen und antijudaistischen Vorurteilen gegen über Juden präsent, sondern daneben hatte sich nunmehr ein rassisch fundierter Antisemitismus in verschiedensten Spielarten entwickelt und breitete sich weiter aus. Das starke Kriegsengagement deutscher Juden und die 12.000 Kriegstoten unter ihnen konnten nicht verhindern, dass sie mit antisemitischen Vorurteilen öffentlich lautstark diffamiert wurden. Dabei hatte die WRV allen Bürgerinnen und Bürgern einen egalitären Rechtsstatus eingeräumt. Die Lebensqualität der Juden hatte sich dadurch scheinbar nicht signifikant verbessert, denn der Anteil der Juden an der deutschen Bevölkerung sank seit 1910 kontinuierlich.

      Besonders zugespitzt formierte sich die Feindschaft gegenüber den deutschen Juden in antisemitischen Organisationen wie dem Deutschen Schutz- und Trutzbund. In Fortsetzung der antisemitischen Agitation Adolf Stoeckers in Berlin setzten in der Weimarer Republik Scharen von kirchlichen Gruppen und individuellen Vertretern, darunter viele Pastoren und Pfarrer, den dezidiert antijudaistischen Kampf gegen die Juden fort.

      Auch in der kirchlichen Presse sowie in der Publizistik waren antisemitische Vorurteile gegenwärtig. Auf diese Weise breiteten sich antisemitische Klischees bis an die Kaffeetafeln in bürgerlich-evangelischen Wohnzimmern aus. Organisationen gegen den Antisemitismus und Antijudaismus waren in der Minderheit, aber sie existierten, wie etwa der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Diese Entwicklung der Weimarer Jahre steht zwar weit hinter dem zurück, was an Diffamierungen und Entrechtung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nach 1933 losgetreten wurde. Allerdings wäre deren zugespitzte Drangsalierung und sich anschließende Verfolgung und Vernichtung in Europa durch die Nationalsozialisten nicht vorstellbar, ohne die sich verdichtende antijüdische Stimmung in der Weimarer Republik.

      Die Weimarer Jahre erweisen sich für den Protestantismus als eine Zeit der bewussten und unbewussten Auseinandersetzung mit dem Schock, den der politische Umbruch seit 1918 ausgelöst hatte. Die vor allem mit der liberalen Theologie verbundenen demokratieaffinen Kräfte waren zahlenmäßig vergleichsweise gering und nahmen auch altersbedingt ab. Viele protestantische Kräfte pflegten unter dem Eindruck, bisweilen sogar gefangen von den tendenziell staatssakralisierenden Traditionen des Protestantismus eine kräftige Krisenmentalität. Eine Stütze der Demokratie konnte das nicht sein.

      Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart 2008.

      Krumwiede, Hans Walter: Evangelische Kirche und Theologie in der Weimarer Republik (Grundtexte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 2). Neukirchen-Vluyn 1990.

      Nowak, Kurt: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932. Göttingen 21988.

      Scholder, Klaus: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934. Frankfurt a. M. u. a. 1977.

       Harry Oelke

       II. Protestantismus und Politik

       1. Die protestantischen Traumata von 1918/19: Kriegsniederlage, Revolution und Versailler Friedensvertrag

      Die Jahre 1918 und 1919 waren für die mehrheitlich nationalkonservativen Protestanten im Deutschen Reich voll von traumatischen Erfahrungen:

      Ende September 1918 gaben die deutschen Militärs den Krieg verloren, von dem sich der deutsche Protestantismus 1914 eine ›religiöse Erneuerung‹ und eine ›nationale Wiedergeburt‹ der Deutschen erhofft hatte. Unentwegt wurde in theologischer Überhöhung des Nationalismus für die ›gerechte Sache‹, für den deutschen expansiven Siegfrieden gepredigt und gebetet. Eine militärische Niederlage war für die Mehrheit der evangelischen Christen unvorstellbar.

      Anfang November 1918 brachte die Revolution kriegsmüder Soldaten und Arbeiter jenen monarchischen Obrigkeitsstaat zu Fall, mit dem sich der Protestantismus vollständig identifiziert und den er legitimiert hatte. Kaiser Wilhelm II., oberster Bischof (summus episcopus) aller evangelischen Kirchen auf preußischem Territorium und bisheriger Garant einer deutschprotestantischen ›Leitkultur‹, dankte ab. Mit dem Ende des preußisch-deutschen Kaiserreichs gerieten alle politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sicherheiten des deutschen Protestantismus ins Wanken. Man wähnte sich schutzlos gegenüber der Bedrohung durch die ›gottlose‹ Sozialdemokratie, den Bolschewismus und den Katholizismus.

      Am 9. November wurde die Republik ausgerufen. Es folgten gewalttätige Auseinandersetzungen, als die radikale Linke eine sozialistisch-proletarische Räterepublik durchzusetzen versuchte. Die blutigen Kämpfe erzeugten im deutschen Protestantismus Ängste vor einem

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