Gesammelte Werke. Heinrich Mann

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Gesammelte Werke - Heinrich Mann

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morgen früh gehe ich hin.“

      Sie bewegte leise und angstvoll den Kopf.

      „Du kennst das nicht. Es ist aus.“

      Da machte er seine Stimme wohlgemut. „Ganz wehrlos sind wir auch nicht! Ich möchte doch sehen!“

      Zum Abschied gab er ihr die Hand. Sie rief ihn nochmals zurück.

      „Du wirst ihn fordern?“ Sie riß die Augen auf und hielt die Hand vor den Mund.

      „Wieso?“ machte Diederich, denn hieran hatte er nicht mehr gedacht.

      „Schwöre mir, daß du ihn nicht forderst!“

      Er versprach es. Zugleich errötete er, denn er hätte gern noch gewußt, für wen sie fürchtete, für ihn oder für den anderen. Dem anderen würde er es nicht gegönnt haben. Aber er unterdrückte die Frage, weil die Antwort ihr peinlich sein konnte; und er verließ das Zimmer beinahe auf den Fußspitzen.

      Die beiden Frauen, die noch immer drunten warteten, schickte er streng zu Bett. Er selbst legte sich erst dann neben Guste, als sie schon schlief. Er hatte zu bedenken, wie er morgen auftreten würde. Natürlich imponieren! Zweifel am Ausgang der Sache überhaupt nicht zulassen! Aber anstatt seiner eigenen, schneidigen Gestalt erschien vor Diederichs Geist immer wieder ein gedrungener Mann mit blanken bekümmerten Augen, der bat, aufbrauste und ganz zusammenbrach: Herr Göppel, Agnes Göppels Vater. Jetzt verstand Diederich in banger Seele, wie damals dem Vater zumute gewesen war. „Du kennst das nicht“, meinte Emmi. Er kannte es – weil er es zugefügt hatte.

      „Gott bewahre!“ sagte er laut und wälzte sich herum. „Ich lasse mich auf die Sache nicht ein. Emmi hat doch nur geblufft mit dem Chloroform. Die Weiber sind raffiniert genug dafür. Ich werf’ sie hinaus, wie es sich gehört!“ Da stand vor ihm auf regnerischer Straße Agnes und starrte, das Gesicht weiß von Gaslicht, zu seinem Fenster hinauf. Er deckte das Bettuch über seine Augen. [pg 426]„Ich kann sie nicht auf die Straße jagen!“ Es ward Morgen, und er sah verwundert, was mit ihm geschehen war.

      „Ein Leutnant steht früh auf“, dachte er und entwischte, bevor Guste wach wurde. Hinter dem Sachsentor die Gärten zwitscherten und dufteten zum Frühlingshimmel. Die Villen, noch verschlossen, sahen frisch gewaschen aus und als seien lauter Neuvermählte hineingezogen. „Wer weiß,“ dachte Diederich und atmete die gute Luft ein, „vielleicht ist es gar nicht schwer. Es gibt anständige Menschen. Auch liegen die Dinge doch wesentlich günstiger als –“ Er ließ den Gedanken lieber fallen. Dort hinten hielt ein Wagen – vor welchem Haus denn? Also doch. Das Gitter stand offen, auch die Tür. Der Bursche kam ihm entgegen. „Lassen Sie nur,“ sagte Diederich, „ich sehe den Herrn Leutnant schon.“ Denn im Zimmer geradeaus packte Herr von Brietzen einen Koffer. „So früh?“ fragte er, ließ den Deckel des Koffers fallen und klemmte sich den Finger ein. „Verdammt.“ Diederich dachte entmutigt: „Er ist auch beim Packen.“

      „Welchem Zufall verdanke ich denn –“ begann Herr von Brietzen, aber Diederich machte, ohne es zu wollen, eine Bewegung, des Sinnes, daß dies unnütz sei. Trotzdem natürlich leugnete Herr von Brietzen. Er leugnete sogar länger als damals Diederich, und Diederich erkannte dies innerlich an, denn wenn es auf die Ehre eines Mädchens ankam, hatte ein Leutnant immerhin noch um einige Grade genauer zu sein als ein Neuteutone. Als man endlich über die Lage der Dinge im reinen war, stellte Herr von Brietzen sich dem Bruder sofort zur Verfügung, was von ihm gewiß nicht anders zu erwarten war. Aber Diederich, trotz seinem tiefen Bangen, erwiderte mit heiterer Stirn, er hoffe, eine Austragung mit den Waffen er[pg 427]übrige sich, wenn nämlich Herr von Brietzen –. Und Herr von Brietzen machte eben das Gesicht, das Diederich vorhergesehen hatte, und brauchte eben die Ausreden, die in Diederichs Geist schon erklungen waren. In die Enge getrieben, sagte er den Satz, den Diederich vor allem fürchtete und der, er sah es ein, nicht zu vermeiden war. Ein Mädchen, das ihre Ehre nicht mehr hatte, machte man nicht zur Mutter seiner Kinder! Diederich antwortete darauf, was Herr Göppel geantwortet hatte, niedergeschlagen wie Herr Göppel. Den rechten Zorn fand er erst, als er an seine große Drohung gelangte, die Drohung, von der er sich schon seit gestern den Erfolg versprach.

      „Angesichts Ihrer unritterlichen Weigerung, Herr Leutnant, sehe ich mich leider veranlaßt, Ihren Oberst von der Sache in Kenntnis zu setzen.“

      Wirklich schien Herr von Brietzen peinlich getroffen. Er fragte unsicher: „Was wollen Sie damit erreichen? Daß ich eine Moralpredigt kriege? Na schön. Im übrigen aber –“ Herr von Brietzen festigte sich wieder, „was Ritterlichkeit ist, darüber denkt der Oberst denn doch wohl etwas anders als ein Herr, der sich nicht schlägt.“

      Da aber stieg Diederich. Herr von Brietzen möge gefälligst seine Zunge hüten, sonst könne es ihm passieren, daß er es mit der Neuteutonia zu tun bekomme! Ihm, Diederich, sei der freudige Blutverlust für die Ehre der Farben durch seine Schmisse bescheinigt! Er wolle dem Herrn Leutnant wünschen, daß er einmal in den Fall komme, einen Grafen von Tauern-Bärenheim zu fordern! „Ich hab’ ihn glatt gefordert!“ Und im selben Atem behauptete er, daß er so einem frechen Junker noch lange nicht das Recht einräume, einen bürgerlichen Mann und Familienvater nur so abzuschießen. „Die Schwester [pg 428]verführen und den Bruder abschießen, das möchten Sie wohl!“ rief er, außer sich. Herr von Brietzen, in einem ähnlichen Zustand wie Diederich, sprach davon, dem Koofmich von seinem Burschen die Fresse einschlagen zu lassen; und da der Bursche schon bereitstand, räumte Diederich das Feld, aber nicht ohne einen letzten Schuß. „Wenn Sie meinen, für Ihre Frechheiten bewilligen wir Ihnen auch noch die Militärvorlage! Sie sollen sehen, was Umsturz ist!“

      Draußen in der einsamen Allee wütete er weiter, zeigte dem unsichtbaren Feinde die Faust und stieß Drohungen aus. „Das kann euch schlecht bekommen! Wenn wir mal Schluß machen!“ Plötzlich bemerkte er, daß die Gärten noch immer zum Frühlingshimmel zwitscherten und dufteten, und es ward ihm klar, selbst die Natur, mochte sie schmeicheln oder die Zähne zeigen, war ohne Einfluß auf die Macht, die Macht über uns, die ganz unerschütterlich ist. Mit dem Umsturz war leicht drohen; aber das Kaiser-Wilhelm-Denkmal? Wulckow und Gausenfeld? Wer treten wollte, mußte sich treten lassen, das war das eherne Gesetz der Macht. Diederich, nach seinem Anfall von Auflehnung, fühlte schon wieder den heimlichen Schauer dessen, den sie tritt ... Ein Wagen kam von dort hinten: Herr von Brietzen mit seinem Koffer. Diederich, ehe er es bedachte, machte halb Front, bereit zu grüßen. Aber Herr von Brietzen sah weg. Diederich freute sich, trotz allem, des frischen und ritterlichen jungen Offiziers. „Den macht uns niemand nach“, stellte er fest.

      Freilich, nun er die Meisestraße betrat, ward ihm beklommen. Von weitem sah er Emmi nach ihm ausspähen. Ihm fiel auf einmal ein, was sie in der vergangenen Stunde, die ihr Schicksal entschied, durchgemacht haben mußte. Arme Emmi, nun war es entschieden. [pg 429]Die Macht war wohl erhebend, aber wenn es die eigene Schwester traf –. „Ich habe nicht gewußt, daß es mir so nahegehen würde.“ Er nickte hinauf, so ermunternd wie möglich. Sie war viel schmaler geworden, warum sah das niemand? Unter ihrem blaß flimmernden Haar hatte sie große schlaflose Augen, ihre Lippe zitterte, als er ihr zuwinkte; auch das fing er auf in seiner scharfsichtigen Angst. Die Treppe hinauf schlich er fast. Im ersten Stock kam sie aus dem Zimmer und ging vor ihm her in den zweiten. Oben drehte sie sich um – und als sie sein Gesicht gesehen hatte, ging sie hinein ohne eine Frage, ging bis zum Fenster und blieb abgewendet stehen. Er raffte sich zusammen, er sagte laut: „Oh! noch ist nichts verloren.“ Darauf erschrak er und schloß die Augen. Da er aufstöhnte, wandte sie sich um, kam langsam herbei und legte, um mitzuweinen, den Kopf an seine Schulter.

      Nachher hatte er einen Auftritt mit Guste, die hetzen wollte. Diederich sagte ihr auf den Kopf zu, daß sie Emmis Unglück nur mißbrauche, um sich zu rächen für die ihr nicht gerade günstigen Umstände, unter denen sie selbst geheiratet worden war. „Emmi läuft wenigstens keinem nach.“ Guste kreischte auf. „Bin ich dir vielleicht

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