Gesammelte Werke. Heinrich Mann
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„Was hast du, mein lieber Sohn?“ fragte Frau Heßling, denn Diederich hatte vor Haß und Angst schwer aufgestöhnt. Er erschrak; in diesem Augenblick betrat Emmi das Zimmer, sie hatte es, so meinte Diederich, schon mehrmals betreten – ging zum Fenster, streckte den Kopf hinaus, seufzte, als sei sie allein, und begab sich auf den Rückweg. Guste sah ihr nach; wie Emmi an Diederich vorbeikam, umfaßte Gustes spöttischer Blick sie beide, und Diederich erschrak noch tiefer: denn dies war das Lächeln des Umsturzes, das er an Napoleon Fischer kannte. So lächelte Guste. Vor Schrecken runzelte er die Stirn und rief [pg 421]barsch: „Was gibt es!“ Schleunigst verkroch sich Guste in ihre Flickerei, Emmi aber blieb stehen und sah ihn mit den entgeisterten Augen an, die sie jetzt manchmal hatte. „Was ist mit dir?“ fragte er, und da sie stumm blieb: „Wen suchst du auf der Straße?“ Sie hob nur die Schultern, in ihrer Miene geschah gar nichts. „Nun?“ wiederholte er leiser; denn ihr Blick, ihre Haltung, die merkwürdig unbeteiligt und dadurch überlegen schienen, erschwerten es ihm, laut zu sein. Sie ließ sich endlich herbei zu sprechen.
„Es hätte sein können, daß die beiden Fräulein von Brietzen noch gekommen wären.“
„Am späten Abend?“ fragte Diederich. Da sagte Guste: „Weil wir an die Ehre doch gewöhnt sind. Und überhaupt, sie sind schon gestern mit ihrer Mama abgereist. Wenn sie einem nicht adieu sagen, weil sie einen gar nicht kennen, braucht man bloß an der Villa vorbeizugehen.“
„Wie?“ machte Emmi.
„Na gewiß doch!“ Und das Gesicht überglänzt, triumphierend ließ Guste das Ganze los. „Der Leutnant reist auch bald hinterher. Er ist doch versetzt.“ Eine Pause, ein Blick. „Er hat sich versetzen lassen.“
„Du lügst“, sagte Emmi. Sie hatte gewankt, man sah, wie sie sich steif machte. Den Kopf sehr hoch, wandte sie sich ab und ließ hinter sich den Vorhang fallen. Im Zimmer war Stille. Die alte Frau Heßling auf ihrem Sofa faltete die Hände, Guste sah herausfordernd Diederich nach, der schnaufend umherlief. Als er wieder bei der Tür war, gab er sich einen Ruck. Durch den Spalt erblickte er Emmi, die im Eßzimmer auf einem Stuhl saß oder hing, zusammengekrümmt, als habe man sie gebunden und dort hingeworfen. Sie zuckte, dann kehrte sie das Gesicht der Lampe zu; vorhin war es ganz weiß ge[pg 422]wesen und war jetzt stark gerötet, der Blick sah nichts – und plötzlich sprang sie auf, fuhr los wie gebrannt, und mit zornigen, unsicheren Schritten stürmte sie fort, sich anschlagend, ohne Schmerz zu fühlen, fort, wie in Nebel hinein, wie in Qualm ... Diederich drehte sich in steigender Angst nach Frau und Mutter um. Da Guste zur Respektlosigkeit geneigt schien, raffte er den gewohnten Komment zusammen und stampfte stramm hinter Emmi her.
Noch hatte er nicht die Treppe erreicht, und droben ward schon heftig die Tür versperrt, mit Schlüssel und Riegel. Da begann Diederichs Herz so stark zu klopfen, daß er anhalten mußte. Als er hinaufgelangt war, blieb ihm nur noch eine schwache, atemlose Stimme, um Einlaß zu verlangen. Keine Antwort, aber er hörte etwas klirren auf dem Waschtisch, – und plötzlich schwenkte er die Arme, schrie, schlug gegen die Tür und schrie unförmlich. Vor seinem eigenen Lärm hörte er nicht, wie sie öffnete, und schrie noch, als sie schon vor ihm stand. „Was willst du?“ fragte sie zornig, worauf Diederich sich sammelte. Von der Treppe spähten mit fragendem Entsetzen Frau Heßling und Guste hinauf. „Unten bleiben!“ befahl er, und er drängte Emmi in das Zimmer zurück. Er schloß die Tür. „Das brauchen die anderen nicht zu riechen“, sagte er knapp, und er nahm aus der Waschschüssel einen kleinen Schwamm, der von Chloroform troff. Er hielt ihn mit gestrecktem Arm von sich fort und heischte: „Woher hast du das?“ Sie warf den Kopf zurück und sah ihn an, sagte aber nichts. Je länger dies dauerte, um so weniger wichtig fühlte Diederich die Frage werden, die doch von Rechts wegen die erste war. Schließlich ging er einfach zum Fenster und warf den Schwamm in den dunklen Hof. Es platschte, er war in den Bach gefallen. Diederich seufzte erleichtert.
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Jetzt hatte Emmi eine Frage. „Was führst du hier eigentlich auf? Laß mich gefälligst machen, was ich will!“
Dies kam ihm unerwartet. „Ja, was – was willst du denn?“
Sie sah weg, sie sagte achselzuckend: „Dir kann es gleich sein.“
„Na, höre mal!“ Diederich empörte sich. „Wenn du vor deinem himmlischen Richter dich nicht mehr genierst, was ich persönlich durchaus mißbillige: ein bißchen Rücksicht könntest du wohl auch auf uns hier nehmen. Man ist nicht allein auf der Welt.“
Ihre Gleichgültigkeit verletzte ihn ernstlich. „Einen Skandal in meinem Hause verbitte ich mir! Ich bin der erste, den es trifft.“
Plötzlich sah sie ihn an. „Und ich?“
Er schnappte. „Meine Ehre –!“ Aber er hörte gleich wieder auf; ihre Miene, die er nie so ausdrucksvoll gekannt hatte, klagte und höhnte zugleich. In seiner Verwirrung ging er zur Tür. Hier fiel ihm ein, was das Gegebene sei.
„Im übrigen werde ich meinerseits als Bruder und Ehrenmann natürlich voll und ganz meine Pflicht tun. Ich darf erwarten, daß du dir inzwischen die äußerste Zurückhaltung auferlegst.“ Mit einem Blick nach der Waschschüssel, aus der noch immer der Geruch kam.
„Dein Ehrenwort!“
„Laß mich in Ruhe“, sagte Emmi. Da kehrte Diederich zurück.
„Du scheinst dir des Ernstes der Lage denn doch nicht bewußt zu sein. Du hast, wenn das, was ich fürchten muß, wahr ist –“
„Es ist wahr“, sagte Emmi.
„Dann hast du nicht nur deine eigene Existenz, zum mindesten deine gesellschaftliche, in Frage gestellt, sondern eine ganze Familie mit Schande bedeckt. Und wenn ich nun im Namen von Pflicht und Ehre vor dich hintrete –“
„Dann ist es auch noch so“, sagte Emmi.
Er erschrak; er setzte an, um seinen Abscheu zu bekunden vor so viel Zynismus, aber in Emmis Gesicht stand zu deutlich, was alles sie durchschaut und abgetan hinter sich ließ. Vor der Überlegenheit ihrer Verzweiflung kam Diederich ein Schaudern an. In ihm zersprang es wie künstliche Federn. Die Beine wurden ihm weich, er setzte sich und brachte hervor: „So sag’ mir doch nur –. Ich will dir auch –.“ Er sah an Emmis Erscheinung hin, das Wort Verzeihen blieb ihm stecken. „Ich will dir helfen“, sagte er. Sie sagte müde: „Wie willst du das wohl machen?“ und sie lehnte sich drüben an die Wand.
Er sah vor sich nieder. „Du mußt mir freilich einige Aufklärungen geben: ich meine, über gewisse Einzelheiten. Ich vermute, daß es schon seit deinen Reitstunden dauert?...“
Sie ließ ihn weiter vermuten, sie bestätigte nicht, noch widersprach sie – wie er aber zu ihr aufsah, hatte sie weich geöffnete