Der Vielgeliebte und die Vielgehaßte. Clara Viebig

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Der Vielgeliebte und die Vielgehaßte - Clara Viebig

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doch gar so recht nicht mehr, die Frau sah ihn oft heimlich besorgt von der Seite an. Was war ihm nur? Er war zwar ein genauso sicherer und trefflicher Hoboist in der Kapelle wie vordem, aber er setzte manchmal, wenn er abends daheim war, sein Waldhorn an die Lippen und blies oben zum Fensterchen der jetzt leeren Kammer in die nächtliche Stille hinaus, hinauf zu den Sternen, daß der sonst so Harten weich und weh wurde. Er bangte sich wohl nach dem Wilhelminchen? Er fragte nicht mehr nach ihr und verlangte auch nicht mehr, daß sie unverzüglich heim käme. Er sprach überhaupt nicht mehr viel. Wußte er denn nichts mehr davon, daß er sie wegen Wilhelminchen damals so verprügelt hatte? Hatte er heute alles vergessen? Die Frau hütete sich wohl, ihn daran zu erinnern. Er war vergeßlich geworden, ihr Enke, vielleicht auch meldete sich das Alter bei ihm schon vor der Zeit; wenn er den Haarzopf abtat, sobald er aus dem Orchester zurück war, sah die Frau verwundert: Er war schon ganz grau.

      Im Hause der Gräfin Matuschka lernte Wilhelmine Französisch und ihre Worte fein setzen, auch sonst allerlei; vor allem aber, wie man es macht, zu gefallen. In der Kunst war die Matuschka Meisterin. Lässig hingestreckt, noch am Vormittag sich im Bette dehnend, sah die schöne Frau lachend zu, wie Matuschka sich mit der Kleinen neckte. Die mußte ihn bedienen beim Anziehen, ihm den Puder abstäuben, die Kniebänder knüpfen, die Eskarpins stramm ziehen, die Schnallenschuhe abreiben. Wenn sie dann so vor ihm kniete, liebte er es, sie an den Locken zu ziehen. Dabei lachte sie noch, pustete er ihr aber in den Ausschnitt des Kleides, aus dem weiß und zart der junge Busen sich hob, dann verschwand schnell ihr Lachen, wütend fauchte sie ihn an: «Laß das», floh vor dem sie Verfolgenden in die entfernteste Ecke und bedeckte den nackten Hals schützend mit beiden Händen. Matuschka schimpfte: «Blödes Gehabe», die Schwester winkte: «Schlüpf unter bei mir, kleine Gans!» Aber in ihr lautes Gelächter mischte sich etwas wie Ärger: Matuschka machte es wirklich zu heftig, er war ja ganz wild. Wenn sie die junge Schwester auch hergenommen hatte, um ihrem Cercle eine neue Anziehungskraft zu geben und den Kavalieren mehr Anreiz, so durfte sie es doch keinesfalls geschehen lassen, daß ihr Barbar sich an der süßen Unschuld vergriff.

      Vor dem kleinen Palais in der Mohrenstraße hielten Karossen und Sänften. Das war hell erleuchtet, aus allen Fenstern fiel Schein hinaus auf die mit schmutzigem Tauschnee bedeckte Straße. Zwei Diener standen am Eingang bereit und hielten Windlichter hoch, damit die Gäste nicht in das Schneewasser patschten. Ein abscheuliches Wetter! Wenn die Matuschka nicht eine Überraschung angekündigt hätte, und er, der Matuschka, mit den Augen blinzelnd spitzbübisch dabei gelächelt, so wäre man lieber beizeiten zu Bett gegangen. Nun war es bald Mitternacht – man ging zu Matuschkas erst nach der Oper –, und würde der Prinz von Preußen auch wirklich zugegen sein? Die Gastgeber hatten das nicht besonders erwähnt – der Kronprinz liebte es nicht, wenn man ihn avisierte, er kam und ging, ungezwungen wann und wie es ihm beliebte – aber sollte seine bestimmte Anwesenheit vielleicht heute nacht doch die angedeutete Überraschung sein?

      Die schöne Matuschka war heute abend etwas nervös. Sie erhoffte für die Schwester ein glückliches ‹Sort› vorzubereiten, denn interessierte sich eine sehr hohe Persönlichkeit nicht für sie? Der Prinz von Preußen fragte nicht nach der Herkunft. Wenn sie sich auch nicht mit so phantastischen Plänen trug wie die Mutter, so war sie doch gern bereit, dem Schicksal hilfreiche Hand zu bieten. Nun putzte sie an der Kleinen herum. Ihren Mann hatte sie eben herausgeworfen, die Tür vor ihm zugeschlossen; es machte sie ungeduldig, seine Blicke auf den zarten, tief entblößten Schultern, über die beständig ein leichtes Erschauern lief, brennen zu sehen.

      «Frierst du, Wilhelminchen?»

      «Nein. Aber ich wünschte, ich könnte ins Bett gehen. Ich bin schon so müde.»

      Die Matuschka blickte herb: «Ich war auch oft müde und mußte doch. Aber freilich, du bist noch so jung.» Die Ältere konnte eine sie plötzlich ankommende Regung der Rührung nicht ganz unterdrücken: Da saß das Kind wie ein Opferlamm und ließ sich schmücken. «Sieh doch mal in den Spiegel, wie schön du jetzt bist! Du weißt, der Kronprinz kommt heute. Damals war er so freundlich zu dir, du wirst ihn jetzt wiedersehen. Wenn er zu dir spricht, sei lieb, nimm dich zusammen – es ist eine hohe Ehre für dich!»

      «Ja, ja», sagte das müde Kind.

      Es war ein äußerst gelungenes Fest, obwohl der Kronprinz noch nicht erschienen war. Er würde wohl auch nicht mehr kommen, es war bereits zwei, als die ersten aufbrachen. Wahrscheinlich irgendein neues Band, das ihn festhielt. Es ging schon aufs Morgengrauen, als er endlich erschien, anscheinend abgespannt, aber liebenswürdig wie immer. Jetzt kam erst die richtige Stimmung. Die Hausfrau hatte in die Hände geklatscht, das bedeutete: Dienerschaft weg. Sie füllte selber die Gläser. Suchend wanderten dabei ihre Blicke: Wo steckt die Kleine? Seiner Königlichen Hoheit schien augenblicklich nichts dran gelegen, er hatte sich sofort ins Spielzimmer begeben. Da saßen welche mit heißen Köpfen – man spielte Pharo und spielte es hoch – der Prinz hatte sich eingereiht, man schob ihm gleich dienstbeflissen einen Stuhl unter. Die Matuschka sah mit Bedauern: Nun war er leider schon mitten im Spiel. Aber nachher, nachher! Sie fieberte: Schönheiten wurden ihm genug präsentiert, aber keine so jung wie das Wilhelminchen.

      Der Prinz war im Gewinnen, Matuschka verlor. Je mehr die Karten zu dessen Ungunsten fielen, desto mehr trank er; hastig griff seine Hand nach dem Glase, trank es aus in einem Zug, schenkte sich selber ein. Bald war er sinnlos betrunken.

      «Hören wir auf», sagte der Prinz; er war bleich, sein Gesicht gedunsen und doch schlaff vor Abspannung, er war seiner selbst nicht mehr ganz sicher.

      «Denke nicht dran», brüllte Matuschka, «jetzt erst recht nicht. Sitzen geblieben! Glück bei Weibern, Unglück im Spiel – diesmal trifft das nicht zu. Setz dich, du Vielgeliebter! Vielgeliebter – hahaha, ha» – sein Lachen erstickte, einer der Mitspieler hatte ihm rasch die Hand auf den Mund gelegt. So weit durfte es denn doch nicht gehen, Seine Königliche Hoheit könnte sich morgen dieser Worte erinnern.

      Des Prinzen Gesicht hatte sich verfinstert: ‹Vielgeliebter› – sollte er das als Schmeichelei nehmen oder als unstatthafte Anspielung? Er war sich darüber nicht mehr ganz klar.

      Hohe Zeit, daß man Matuschka hinausbeförderte. Kopf ins Wasser, frische Luft, die ernüchtert. Er stolperte der Treppe zu. Da, auf der obersten Stufe, das Köpfchen an die Sprossen des Geländers gelehnt, saß eine und schlief. Ha – haha – war das nicht das Schwesterchen seiner Frau? Aus dem Zimmer geworfen, vor ihm zugeschlossen – haha – hier, jetzt ging das nicht so! «Kleine Hexe, ei, ei, nicht mich herauswerfen – ei, ei!» Er ließ sich neben ihr niederfallen, schlang den Arm fest um sie.

      Wilhelmine hatte ganz fest geschlafen. Wirres Durcheinander in ihrem Traum: alle Kerzen brennen im Kronleuchter, in den Kandelabern – viele Leute – viele Augen – die sehen sie an. Die Schwester hält sie an der Hand. Vorstellungen, Vorstellungen, zierlichste Verneigungen. Man lächelt sie an, sie lächelt auch, das Lächeln friert fest auf ihrem Gesicht. Lächeln, immer lächeln, oh, das tut weh, so den Mund zu verziehen! Und langweilig, so langweilig – was soll sie sagen, was antworten? Es fällt ihr gar nichts mehr ein, die Lider fallen zu – immer wieder sie aufreißen, heimliches Gähnen und wieder Gähnen – müde, ach, so schrecklich müde! Alles wirrt um Wilhelmine: Lichter, Leute, Laute – Schleier von ihren Blicken – ach, schlafen, nur schlafen gehen!

      Ein entsetzter Schrei war es, der durchs Treppenhaus gellte. Es war Wilhelmine, die ihn ausstieß: Wer packte sie an, umschlang sie eisern? Was hauchte sie so heiß an, ein Mensch, ein Tier? Sie wehrte sich gegen die Umschlingung, halb noch im Kinderschlaf, noch nicht ganz wach und doch sich einer Gefahr bewußt.

      Ihr Schrei war auch drinnen gehört worden. Wer schrie? Und warum lachte Matuschka so unbändig? Wen hatte der Trunkene da attackiert? Die um den Spieltisch saßen, waren aufgesprungen, drängten heraus. Aber es war nicht die Zofe, die man, von dem Trunknen bedrängt, zu finden erwartete.

      Welch unangenehme

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