Der Vielgeliebte und die Vielgehaßte. Clara Viebig

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Der Vielgeliebte und die Vielgehaßte - Clara Viebig

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Sie hätte weinen können vor Zorn und Enttäuschung. Die Blicke, mit denen sie ihren Gatten anfunkelte, waren so wütend, daß er plötzlich nüchtern wurde. Aber auch auf die Schwester war sie erzürnt: «Dummes Ding, was fällt dir denn ein, dich auf die Treppe zu setzen? Hör auf mit dem törichten Schreien!»

      Wilhelmine schluchzte noch krampfhaft laut: Oh, daß sie doch fliehen könnte, aber wohin? Alles Gesichter, fremd und neugierig. Wenn doch der Vater hier wäre! Sie fühlte eine lange nicht empfundene, heiße Sehnsucht nach ihm: Der, ja der würde sie schützen! ‹Beruhige dich, mein Kind›, würde er sagen – nein, das sagte jetzt plötzlich ein anderer. Ein großer, vornehmer Herr. Und eine Hand, weicher als die des Vaters, legte sich auf ihren Kopf.

      «Ruhig, mein Kind, es geschieht dir ja nichts!» Der Prinz ergriff die vor Schreck ganz erkaltete kleine Hand, hielt sie fest in der seinen, beugte seine hohe Gestalt nah zu der Zitternden nieder, zog sie von der Stufe der Treppe auf: «Komm, mein Kind, komm, wovor ängstigst du dich? Fürchte doch nichts. Ich bin jetzt bei dir, ich bringe dich selber nach Hause – Spandauer Straße, nicht wahr?»

      Nur ein stummes Nicken die Antwort, ein dankbar verwirrter, großäugiger Blick.

      Er lächelte. Und dann, sich zu seiner vollen Höhe aufrichtend, sehr formell, ganz Königliche Hoheit, zur Matuschka: «Frau Gräfin, führen Sie Ihren Gatten fort! Ich werde die Demoiselle Schwester fortführen. Ich bedaure, aber Sie werden verstehn, daß ich mich jetzt empfehle.»

      An seinem Arm, noch zitternd, doch schon seltsam getröstet, ging Wilhelmine Enke die Treppe hinunter.

      IV

      Ein Geraune ging durch die Stadt, schöne Lippen tuschelten: Was zog den Thronfolger nur so oft nach der Spandauer Straße in ein minderwertiges, ganz obskures Haus? Da wohnte doch die Demoiselle Enke nicht mehr, die hatte ja den Grafen Matuschka eingefangen, wen besuchte er denn jetzt da? Neugierige Augen, Späherblicke.

      Der Prinz glaubte sich von niemandem gesehen, durchaus unbeobachtet, wenn er mehr als einmal die Woche, sobald es völlig dunkelte und die Straße vereinsamt lag, an der Tür des Hornisten Enke den Klopfer rührte. Er hatte sein Zeichen: dreimaliges kurzes Klopfen. Ein ungeduldiges Klopfen – er mußte doch sehen, was sein Schützling machte. Er kam zu Fuß; er, der sonst so bequem war, hier war er es nicht. Ha, sie wußten es alle ja nicht, wie es ihn entzückte, die Kleine zu belehren! Es hatte einen nie sich erschöpfenden Reiz, das, was er selber gelernt hatte von Hofmeistern und ausgezeichneten Schulmännern, nun, selber ein Lehrer, in dies kluge Köpfchen hineinzugießen. Selbst das: ‹Leo est generosus, der Löwe ist großmütig› lernte sie wie zum Spaß; und auch: ‹Vulpes nunquam leonem viderat, der Fuchs hatte niemals den Löwen gesehen› – den Anfang der Fabel, die er einst mit vieler Mühe herausgestockert hatte, übersetzte die Wißbegierige aus dem lateinischen Lehrbuch bald ohne Stocken. Und auch: Ein Zentner, drei Pfund, sieben Lot kosten zwölf Taler achtzehn Groschen, sechs Pfennig, was kosten dreihundertsechzehn Zentner, achtundneunzig Pfund, fünfzehn Lot? – rechnete sie rascher aus als er.

      Und wie bezaubernd sie das Französische sprach! Wenn sie sagte: «Je t’aime», dann überlief es ihn. Sie sagte es harmlos, aber er ließ es sie so oft wiederholen, bis sie es nicht mehr harmlos sagte. Dieses Erröten, dieses die Wimpern Senken, daß sie wie dunkle Schatten auf den Wangen lagen, galt das ihm? Der in der Liebe Erfahrene, der längst kein Jüngling mehr war, den Vierzigern näher als den Zwanzigern, forschte wie ein Neuling. Vierzehn Jahre – konnte sie denn schon lieben? Er sah ihr in die Augen, die noch kindlich groß in die seinen blickten; aber versenkte sein Blick sich zu tief, schwimmend von Begehren, dann fing auch der klare Glanz ihrer Augen an, sich zu verschleiern, dann wurde ihr bis dahin offener Blick scheu – mußte er etwas verbergen? Es bebte der Mann vor Entzücken.

      Es waren Unterrichtsstunden, die den Lehrer alles andere vergessen ließen: seine Familie – Gattin und Kinder – die Politik, die Rankünen des Alten in Sanssouci, an denen er es nicht fehlen ließ, jetzt weniger denn je. War dem ewig Nörgelnden vielleicht von seinen Spionen bereits hinterbracht worden, warum der Thronerbe die Regierungsgeschäfte, um die er sich wenigstens dem Schein nach in etwas gekümmert hatte, nun ganz außer acht ließ? Unmöglich! Wer von den wenigen Freunden, die um sein Geheimnis wußten, hätte ihm, dem Vielgeplagten, so lange schon auf den Thron Wartenden, nicht gern diese ihn so beglückende Zerstreuung gegönnt? Freilich, der Graf von Anhalt-Dessau hatte, ehe er, zur Gesandtschaft nach Petersburg kommandiert, abreiste, Worte fallen lassen, die wie eine Warnung klangen: «Ich habe Eure Königliche Hoheit in dieses Haus gebracht, es wäre mir leid, wenn dieses zu einem Ärgernis ausfallen würde. Leid um Ihrer selbst willen, leid um den ehrenwerten Enke, leid um meine alte Freundin, die Enkin. Am meisten leid um die Kleine. Sie ist ein goldiges Ding, das schon von klein an mich alten Sünder mit dem Netz ihrer Unschuld und Schönheit umstrickt hat. Aber mehr denn als Patenkind kann ich sie mir doch nicht in die Schuhe schieben lassen, wenn Sie, Prinz, vielleicht auch solches vermuten dürften. Nur Patenkind, auf meine Ehre als Kavalier und Soldat. Ich habe Wilhelminen als Kind Ihrer Gnade empfohlen – Königliche Hoheit, vergessen Sie nicht: Ihrer Gnade

      War er denn nicht gnädig? Der Prinz von Preußen glaubte, sich keiner Schuld bewußt sein zu müssen. War es denn nicht lobenswert, diesem jungen Wesen, das hungrig nach Wissen und Bildung war und aufnahmebereit für alles, was Kunst hieß, nach besten Kräften das mitzuteilen, was er selber davon besaß. Er bedauerte jetzt, nicht mehr zu wissen. Wie sie an seinen Lippen hing! Nie hat ein Lehrer eine aufmerksamere Schülerin vor sich gesehen. Mit tiefem Atemholen sog sie alles in sich hinein wie eine dürstende Pflanze den labenden und befruchtenden Regen. Es war erstaunlich, was sie für Fortschritte machte.

      «Sie lernt ja auch die ganze Nacht, sie schläft vor lauter Lernen nicht mehr», sagte stolz und doch auch ein wenig klagend Enke. Das Wilhelminchen wurde ordentlich blaß davon, die runden Wangen zarter und schmaler. Es wäre der Mutter begreiflicher gewesen, der hohe Herr hätte mit ihr oben in der guten Stube gesessen wie einst ihre Älteste mit dem Matuschka. Aber dagegen wehrte der Prinz sich: nein, oben nicht, nicht in jener Stube, die einst so manches gesehen und gehört hatte, was für sein Kleinod nicht paßte! So saß er denn lieber unten in der Küche mit ihr, aus der jeder Küchengeruch verbannt wurde an dem Tage, an dem er erschien. Was wußte er davon, daß den Enkes an diesem Tag nichts Warmes in den Magen kam. Die Küche war zum Wohngemach umgestempelt, mit ein paar besseren Sachen dürftig möbliert, es durfte niemand sonst sie mehr betreten. die Brüder mußten oben auf der blanken Diele des Bodens liegen, bis der hohe Herr nach Mitternacht fortging. Auch Enke kam dann erst spät heim; längst über die Polizeistunde saß er in einem Winkel der Kneipe, wies man ihn endlich hinaus, wartete er an der Straßenecke, bis er daheim erwünscht war. Er hatte ein Zuhause nicht mehr.

      Nur die Mutter wurde noch geduldet, aber auch sie störte den Lehrer. Alles störte ihn. Die Knickse der Frau, ihre halb devoten, halb vertraulichen Redensarten fielen ihm auf die Nerven. Seine Blicke, wie die eines Verirrten, stießen sich an den kahlen, nüchternen Wänden – war das eine Umgebung für ihn?! Fielen seine Augen aber auf das schöne Kind, das sich, tief übers Heft neigend, mit vor Eifer geröteten Wangen an einem Aufsatz über die Geschichte Brandenburgs schrieb, schwand jeder Unmut; er sah nur sie, sie. Denn er liebte sie. Und die Unmöglichkeit, sie hier in dieser Umgebung zu besitzen, so wie er sie zu besitzen begehrte, ungestört, raubte ihm jede verständige Überlegung und jedes Besinnen. Warum sollte er sie denn nicht hier fortnehmen? Sie paßte ja gar nicht hierher. Die fünfzig Taler, die er der Mutter monatlich gab, konnten die ganze Umgebung nicht ummodeln. Wilhelmine wieder zu den Matuschkas bringen? Leichtsinnige Frau, russischer Barbar – Gott sei davor, daß er solches täte! Sein Kind, sein Kleinod, sein über alles geliebtes Mädchen! Es mußte bewahrt werden vor allem Häßlichen, ganz im geheimen der Stunde entgegenreifen, in der es ihm von selber in die Arme sank: «Ich bin dein.»

      Wer durfte dem Prinzen von Preußen, dem demnächstigen Herrscher, ein Halt gebieten? Niemand.

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