Michael Unger . Ricarda Huch
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Читать онлайн книгу Michael Unger - Ricarda Huch страница 10
Die Sonne war noch nicht untergegangen, stand aber hinter schwerem grauen Gewölk, das nur ein schwaches gelbliches Licht hindurchließ; wo in der Ferne die Berge lagen, zuckte in schwarzblauer Wolkenmasse hier und da langsam ein weißes, breites Wetterleuchten. Der Wind, der den Tag über in matten Stößen sich bewegt hatte, begann tiefer zu atmen und trieb die Wellen rasch und hoch dem Strande entgegen. Auf den dunkelgrünen Leibern wälzte sich der springende Schaum und erfüllte die Luft mit blitzendem Wasserstaube; wie ein Meer schwoll es näher und näher, bäumte sich hoch und zerschmetterte klingend im Sturz am Ufer. »Was denkst du?« fragte Michael leise, da sie mit vorgebeugtem Haupte dem Wasser entgegenzuverlangen schien. »Ich höre die Musik der Brandung«, antwortete sie. »Es ist meine Seele, die deine Füße umarmen will«, flüsterte er hingerissen, indem er sich von der Bank heruntergleiten ließ und den Kopf in ihren Schoß legte. Sie neigte ihr Gesicht dicht auf ihn herab, so daß sie beide nichts mehr sahen und kaum noch wußten, ob sie das Rauschen der Elemente oder einen wunderbaren Triumphgesang der Liebe in ihrem Innern vernähmen. Als sie sich nach einer langen Weile aufrichtete und er in ihre nassen Augen sah, umfaßte sie mit beiden Händen seinen Kopf und rief: »O du! du Geliebter!«, wobei ihr stilles Gesicht sich veränderte, wie wenn in einem antiken Marmorbilde das heiße südliche Blut lebendig geworden wäre. Aus ihren schimmernden Augen und von ihrem starken, blühenden Munde strahlte schwärmerisches Entzücken, ja eine Wildheit der Freude, deren Dasein niemand in ihr vermutet hätte, über ihr ruhiges Wesen. Er staunte, und doch war ihm alles, was sie tat und sagte, nur eine Bestätigung seiner innersten Ahnung, die ihm nun, da sie sich erfüllte, bewußt wurde. Als sie im Gastzimmer nebeneinander saßen, Brot aßen und roten Wein tranken, sagte sie auf sein Drängen, ihm ihr Wesen und ihre Liebe zu erklären: »Seit ich dich gesehen hatte, trug ich dich in mir, aber ein guter Genius wachte still über deinem verhüllten Bilde, um mich nicht vor der Zeit zu erschrecken. Wie du nun hier vor mir standest, erkannte ich dich plötzlich als einen Teil von mir und erschrak vor der Offenbarung, die mir wurde; aber ich fürchtete mich so wenig wie einer, der einen Geist sieht, selbst wenn er ihm die Stunde seines Todes meldet.«
Michael wollte noch in derselben Nacht nach Hause zurückkehren, um seine Angehörigen, denen er einen kurzen telegrafischen Bericht hatte zukommen lassen, er habe in Geschäften verreisen müssen, nicht länger der Unruhe auszusetzen. Auf die Zeichen zur Abfahrt des Dampfers lauschend, die vom Wirtszimmer aus vernehmbar waren, saßen Michael und Rose auf einem schäbigen, mit Leder überzogenen Sofa, als hätte sich die Ewigkeit auf sie herniedergelassen. Sie sprachen nicht von Trennung oder Wiedersehen, nicht sowohl weil das in diesem Augenblick unerträglich gewesen wäre, als weil die Wonne, sich gefunden zu haben, noch so stark in ihnen nachzitterte, daß ein Schmerz nicht wirklich werden konnte. Als das langgezogene Pfeifen zum letzten Male aufgellte und Michael eilen mußte, fuhren sie zusammen, reichten sich aber in einem glücklichen Traume befangen lächelnd die Hand; Rose begleitete ihn nicht bis zur Landungsbrücke.
Es war des stürmischen Wetters und der vorgerückten Stunde wegen kein Reisender außer Michael auf dem Verdeck. Die Wetterschwärze hatte den ganzen Himmel bezogen, und der Wind raste über das Wasser; an der Bergseite blitzte noch von Zeit zu Zeit das ferne Wetterleuchten. Wie Michael an der Spitze des Schiffes stand und der Wind ihm die Haare von der Stirn wehte, glaubte er in das Getöse der Wellen hinein die rauschenden Stimmen aus seinem Kindergarten zu hören: O Leben, o Schönheit, o Leben, o Schönheit!, und ein magisches Band schien von jenen dumpfen Träumereien zu diesem Augenblick des Glückes zu führen. Wie er größer geworden war, hatte er sich zaghaft auf der kümmerlichen mechanischen Bühne herumgeschoben, die Menschen aufgestellt und für das Leben ausgegeben hatten. Dort deklamierte jeder sein ödes Tagewerk in langen Jammerversen, und schläfrige Furien, Langeweile und Mißmut und Entkräftung schlichen auf Socken hinter ihm her. Aber was tut es, dachte er, wenn der Sturm mir den Mantel zerreißt und mein Schiff an den Fels wirft, wo es scheitern kann! Welche Wonne ist es, zu kämpfen, welche Wonne, zu hoffen und zu wagen, welche Wonne noch, unterzugehen. Er bewegte die Lippen, und sein Herz schrie in die tosende Nacht hinaus: O Leben, o Schönheit! bis es ihm war, als ob das Heer der wilden Seelen von Sturm, Wolken und Wellen mit ungeheurem Frohlocken wiederholte: O Leben, o Schönheit! Noch als er den Dampfer verlassen hatte und zu Lande weiterfuhr, brandete der stolze Rhythmus an seinem inneren Ohre und ging allmählich in den regelmäßig schütternden Takt der Eisenbahn über, die ihn wieder nach Hause trug.
*
Wenn man aus der Kirche, wo einem die Wirkung edler architektonischer Formen und der Musik fast ohne eigene Anspannung über das Irdische hinaus gegen den Himmel trug, auf die Straße tritt, entsinkt einem wohl der Mut, zwischen den spießbürgerlich geschäftigen Menschen, mit denen man beständig die nächsten Pflichten zu teilen hat, den köstlichen Aufschwung zu bewahren. Etwas Ähnliches erlebte Michael, als er sich vom Bahnhofe aus auf den Weg nach Hause machte, nur deshalb freilich unendlich schlimmer, als von ihm gefordert wurde, unmittelbar das Schwerste handelnd auszuführen, was ihm in der Aufwallung aller Gefühle leicht erschienen war. So bedachtlos war er freilich nicht gewesen, daß er nicht von Anfang an Kampf und Arbeit vorausgesehen hatte, wenn er sich die Bahn für ein neues Leben frei machen wollte; aber er hatte an heroische Kämpfe gedacht, die ihm nun lächerlich vorkamen angesichts des Schlachtfeldes, wo sie entbrennen sollten. Alles, was er unterwegs sah, die Schaufenster voll kostbarer Überflüssigkeiten, die Bäume, die, in regelmäßigen Abständen gepflanzt, sich an wohlabgewogener Entfaltung glichen, die behäbigen Häuser mit dem doppelten Eingange für Herrschaft und Dienerschaft, die blinkenden Schilder, die vor Bettelei warnten, alles schien sich zu einer bedrohlichen Feindesmacht gegen ihn zu verbünden. In den glatten, gepflegten Gesichtern der modisch zusammengeschneiderten Menschen las er freche Grausamkeit, die sich brüstete: Wir kennen den Gott über den Wassern nicht; wir dienen einem Baal, der die Abtrünnigen schlachtet. Ja, hätten sie das laut bekannt, wäre der Kampf leichter gewesen; aber Michael wußte, daß sie keine anderen Worte im Munde führten, als Gott, Familie, Pflicht, Gesetz, Ordnung, die wie geheiligte Schwerter die ungewappnete Rede des Gegners totschlugen.
Plötzlich fiel es ihm ein, daß er bisher nur mit sich selbst gesprochen hatte, daß also in ihm eine Stimme sein mußte, die ihn eines großen Frevels beschuldigte, und er versuchte in sich nachzuforschen, ob er denn so Unerhörtes begehre. Er wollte nichts, das wiederholte er sich ernstlich, als Freiheit des Berufes, Entbürdung von der kaufmännischen Tätigkeit, die Möglichkeit, seinen Geist auszubilden, und wunderte sich, daß ihm bange war, so billige Forderungen zu äußern. Es konnte nichts anders sein, als daß er selbst noch unter der Macht der heimatlichen Anschauungen stand, nach denen jedes Abweichen von der schnurgeraden Straße, auch wenn es aufwärts ging, etwas Schändliches bedeutete, und er sehnte sich, diese Verschnürung lösen und abstreifen zu können.
Verena begegnete ihm mit den Worten: »Du warst bei Rose!« und überhob ihn dadurch der peinlichen Einleitung zu den schweren Auseinandersetzungen, die kommen mußten. Es kam ihm nicht in den Sinn, die Wahrheit zu bestreiten, während Verena im Innersten eine Verneinung erwartet hatte, ja sogar ein Ableugnen, das sie durchschaut hätte, ihr im Augenblick willkommen gewesen wäre. »Ich sagte dir damals, daß du sie liebtest, und du belogst mich«, rief sie heftig, der Ungerechtigkeit dieser Anklage wohl bewußt, im brennenden Triebe, den zugefügten Schmerz sofort zurückzugeben. »Damals sagte ich die Wahrheit wie heute«, entgegnete Michael ruhig. »Ich kann auch nicht bereuen, was ich getan habe, denn ich mußte sie noch einmal sehen, wenn ich weiterleben wollte; es war nicht mein Wille, dir etwas Böses zuzufügen, und was ich dir wider meinen Willen tue, hoffe