Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

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die nachdenklich zugehört hatte, bestieg wieder die Beine Florents und sagte:

      Vetterchen, erzähle mir mal die Geschichte des Mannes, der von den wilden Tieren gefressen wurde.

      Die Vorstellung von dem Schweineblut hatte in dem Kopfe des Kindes ohne Zweifel »die Geschichte des Mannes, der von den wilden Tieren gefressen wurde« – wachgerufen. Florent begriff nicht sogleich. Lisa kam ihm lachend zu Hilfe.

      Sie verlangt die Geschichte, die Sie eines Abends Gavard erzählt haben, sie hat sie mit angehört.

      Florent war sehr ernst geworden. Das Kind holte in ihren Armen die große, gelbe Katze herbei und legte sie auf die Knie des Vetters mit den Worten, auch »Mouton« wolle die Geschichte hören. Allein Mouton sprang auf den Tisch und blieb da mit gekrümmtem Rücken sitzen, die Augen auf den langen, mageren Menschen gerichtet, der für sie seit vierzehn Tagen der fortwährende Gegenstand tiefer Betrachtungen war. Indes ward Pauline ungeduldig; sie stampfte mit den Füßen und verlangte die Geschichte. Da sie immer zudringlicher wurde, sagte Lisa:

      Erzählen Sie ihr doch die Geschichte, damit sie uns in Ruhe lasse.

      Florent schwieg noch einen Augenblick. Er hatte die Blicke zu Boden gesenkt. Dann erhob er langsam den Kopf, heftete die Blicke auf die zwei nähenden Frauen und hernach auf Quenu und August, die den Wurstkessel instandsetzten. Das Gas brannte ruhig; der Ofen verbreitete eine angenehme Wärme; alles Fett der Küche glänzte in dem Wohlbehagen einer gesunden Verdauung. Er setzte die kleine Pauline auf eines seiner Knie und begann mit einem trüben Lächeln zu erzählen:

      Es war einmal ein armer Mann. Man schickte ihn weit, weit fort bis übers Meer. Auf dem Schiffe, das ihn hinwegführte, gab es vierhundert Sträflinge; unter diese ward auch er geworfen. Fünf Wochen lebte er unter diesen Banditen; das Ungeziefer fraß ihn schier auf; er war wie sie in Segeltuch gekleidet und aß aus ihrer Blechschale. Fürchterlicher Schweiß lagerte häufig auf ihm und raubte ihm alle Kräfte. Die Küche, die Bäckerei, die Maschine durchhitzten dermaßen das Zwischendeck, daß unterwegs zehn Sträflinge vor Hitze umkamen. Tagsüber ließ man sie zu fünfzig und fünfzig auf das Verdeck kommen, wo sie sich in der Seeluft ergehen durften; und weil man Furcht vor ihnen hatte, waren zwei Kanonen auf jene schmale Stelle des Schiffes gerichtet, wo sie sich ergingen. Der arme Mann war sehr froh, als er an die Reihe kam. Sein Schweiß legte sich ein wenig. Er aß kaum mehr, er war sehr krank. Wenn er des Nachts wieder in Eisen gelegt war und vom Seesturm zwischen seinen zwei Nachbarn hin- und hergeschleudert wurde, fühlte er sich feige und weinte, glücklich darüber, ungesehen weinen zu können.

      Pauline hörte mit weit geöffneten Augen und fromm gefalteten Händen zu.

      Aber das ist doch nicht die Geschichte des Mannes, der von den wilden Tieren gefressen worden, unterbrach sie ihn. Das ist eine andere Geschichte; nicht wahr, Vetter?

      Warte nur, du wirst schon sehen, entgegnete Florent sanft. Ich komme schon zur Geschichte jenes Mannes ... Ich erzähle die ganze Geschichte.

      Ja? gut ... sagte das Kind mit glücklicher Miene.

      Indes blieb sie nachdenklich, augenscheinlich mit irgendeiner großen Schwierigkeit beschäftigt, die sie nicht lösen konnte. Endlich entschloß sie sich zu fragen:

      Was hat denn der arme Mann getan, daß man ihn in ein Schiff tat und so weit fortschickte?

      Lisa und Augustine lächelten. Sie waren entzückt von dem Geiste dieses Kindes. Ohne direkt zu antworten, wollte Lisa die Gelegenheit benützen, um dem Kinde eine Lehre zu geben. Pauline war überrascht zu hören, daß man auch die schlimmen Kinder in das Schiff stecke.

      Dann hat der arme Mann des Vetters recht gehabt, in der Nacht zu weinen, bemerkte das Kind.

      Lisa nahm die Arbeit wieder auf und schwieg. Quenu hatte nichts von allem gehört. Er hatte Zwiebelscheiben in den Kessel geworfen, die auf dem Feuer hell zu zischen begannen wie die Grillen in der Sonnenhitze. Es roch sehr gut. Wenn Quenu mit seinem langen, hölzernen Löffel in den Kessel fuhr, zischte es stärker und füllte sich die Küche mit dem durchdringenden Gerüche der gebratenen Zwiebel.

       August hielt in einer Schüssel Speckfett bereit. Das Hackmesser Léons arbeitete jetzt lebhafter, fuhr zuweilen wie ein Rechen über den Hackstock und scharrte das Wurstfleisch zusammen, das sich zu einem Teige zu verdicken begann.

      Als das Schiff gelandet, fuhr Florent fort, führte man den Mann auf eine Insel, die man die »Teufelsinsel« nannte. Hier war er mit mehreren anderen Kameraden, die man ebenfalls aus ihrer Heimat vertrieben hatte. Alle waren sehr unglücklich. Zuerst zwang man sie zu arbeiten wie die Sträflinge. Der Gendarm, der sie bewachte, zählte sie täglich dreimal ab, um sich zu überzeugen, daß niemand fehle. Später ließ man sie tun, was sie wollten; nur des Nachts wurden sie in einer großen, hölzernen Hütte eingesperrt, wo sie in Hängematten schliefen, die zwischen zwei Balken ausgespannt waren. Nach Verlauf eines Jahres gingen sie barfüßig und ihre Kleider hingen ihnen in Fetzen vom Leibe, daß die nackte Haut zu sehen war. Aus Baumstümpfen hatten sie sich Hütten gebaut, um sich gegen die Sonne zu schützen, deren Glühhitze in jenem Lande alles versengt; allein, die Hütten vermochten sie nicht gegen die Mücken zu schützen, die des Nachts sie mit Blasen und Stichen bedeckten. Mehrere starben davon; die anderen wurden so gelb, so dürr, so elend, daß sie mit ihren langen Bärten Mitleid erregten ...

      August, geben Sie mir das Fett her! schrie Quenu.

      Als er die Schüssel in der Hand hatte, ließ er sachte ein Stück Fett nach dem andern in den Kessel gleiten und zerrieb es mit dem Ende des Kochlöffels. Das Fett schmolz, und ein dichterer Dampf stieg von dem Ofen empor.

      Was gab man ihnen zu essen? fragte die Kleine mit tiefem Interesse.

      Man gab ihnen Reis, der voll war mit Würmern und übelriechendes Fleisch, erwiderte Florent, dessen Stimme immer dumpfer wurde. Um den Reis zu essen, mußte man die Würmer herausklauben. In stark durchgebratenem Zustande war das Fleisch noch genießbar, gekocht hingegen stank es dermaßen, daß man die Kolik davon bekam.

      Ich will lieber trockenes Brot essen, bemerkte die Kleine, nachdem sie mit sich zu Rate gegangen war.

      Léon war jetzt mit dem Hacken fertig und brachte das Wurstfleisch in einer Schüssel zu dem viereckigen Tisch. Die Katze Mouton, die noch immer Florent anblickte und von dessen Geschichte außerordentlich überrascht zu sein schien, mußte jetzt ein wenig zurückweichen, was sie augenscheinlich unwillig tat. Brummend hockte sie nieder und schnupperte nach dem Wurstfleisch. Indes schien Lisa ihr Erstaunen und ihren Ekel nicht verbergen zu können. Der wurmige Reis und das stinkende Fleisch schienen ihr sicherlich unglaubliche Unflätigkeiten, entehrend für den, der sie gegessen hatte. In ihrem schönen Gesichte und in dem Anschwellen ihres Halses malte sich ein unbestimmter Schrecken vor diesem Manne, der sich mit solch scheußlichen Dingen genährt hatte.

      Nein, es war kein Belustigungsort, nahm Florent seine Geschichte wieder auf, wobei er der kleinen Pauline völlig vergaß und die irrenden Augen auf den rauchenden Kessel richtete. Jeden Tag gab es neue Quälereien, eine ewige Marter, eine Schändung jeder Gerechtigkeit, eine Mißachtung aller menschlichen Barmherzigkeit, die die Gefangenen in Verzweiflung stürzte und von einem Fieber krankhafter Rachsucht langsam verzehren ließ. Man lebte da gleich den Tieren unter der ewig geschwungenen Peitsche. Diese Elenden wollten den Menschen töten ... Man kann es nicht vergessen; nein, es ist nicht möglich. Diese Leiden werden eines Tages nach Rache schreien.

       Er hatte die Stimme gedämpft, und die Speckstücke im Kessel deckten sie mit ihrem Zischen und Brodeln. Aber Lisa hörte ihm zu, erschreckt von dem unversöhnlichen Ausdruck, den sein Antlitz plötzlich angenommen hatte. Sie hielt ihn für einen Heuchler

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