Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
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Des Abends bot es ihm eine große Zerstreuung, sich an das Fenster des Mansardenstübchens zu lehnen. Dieses Fenster war eigentlich ein schmaler Balkon im Hausdache, ein Balkon mit hohem eisernen Geländer, wo Augustine einen Granatenbaum in einem Kübel hegte. Seitdem die Nächte kalt waren, nahm Florent den Granatenbaum des Abends in seine Stube und ließ ihn über Nacht am Fuße des Bettes stehen. Er pflegte einige Minuten am Fenster zu bleiben, sog kräftig die frische Luft ein, die von der Seine kam, über die Häuser der Rivoli-Straße hinweg. Unten konnte er undeutlich die Dächer der Hallen ihre grauen Felder ausdehnen sehen. Sie glichen stillen Seen, in deren Mitte der flüchtige Widerschein irgendeiner Fensterscheibe den Silberschimmer einer Welle tanzen ließ. Weiterhin lagen die Dächer des Fleischpavillons und des Geflügelpavillons in einem noch tieferen Dunkel; sie glichen nur mehr einer Anhäufung von Schatten, die den Horizont zurückdrängten. Er freute sich des großen Stück Himmels, das er vor sich hatte, dieser ungeheuren Ausdehnung der Hallen, die ihn inmitten der engen Gassen von Paris unbestimmt an einen Meeresstrand erinnerten mit dem stillen, schieferfarbenen Wasser einer Bucht, das kaum von dem fernen Rollen der Wogen gekräuselt wird. Hier stand er selbstvergessen und träumte jeden Abend von einer anderen Meeresküste. Es stimmte ihn sehr traurig und sehr froh zugleich, wenn er sich in die Erinnerungen an jene trostlosen acht Jahre versenkte, die er außerhalb Frankreichs verbracht hatte. Dann schloß er fröstelnd das Fenster. Oft, wenn er vor dem Kamin seinen falschen Kragen abknöpfte, beunruhigte ihn die Photographie von August und Augustine; Hand in Hand, mit ihrem matten Lächeln, sahen sie ihm zu, wie er sich entkleidete.
Die ersten Wochen, die Florent im Pavillon für Seefische zubrachte, waren sehr peinlich. Bei der Familie Méhudin war er auf eine offene Feindschaft gestoßen, die ihn mit dem ganzen Markt in Fehde brachte. Die schöne Normännin wollte sich an Lisa rächen, und der Vetter war ein gefundenes Opfer.
Die Méhudine stammten aus Rouen. Die Mutter Louisens erzählte noch, wie sie mit einem Korb voll Aale nach Paris gekommen war. Sie war dann beim Fischhandel geblieben. Sie heiratete daselbst einen Steuerbeamten, der bald starb, ihr zwei kleine Töchter zurücklassend. Ehemals hatte sie dank ihrer frischen Farbe und ihrer breiten Hüften den Zunamen »die schöne Normännin« geführt. Später hatte ihre ältere Tochter diesen Titel geerbt. Heute war sie gesetzt und schlapp und trug ihre fünfundsechzig Jahre als Matrone, der die ewige Feuchtigkeit in der Fischabteilung die Stimme heiser gemacht und die Haut blau gefärbt hatte; bei ihrer sitzenden Lebensweise war sie ungeheuer dick geworden; die mächtige Brust und die immer zunehmende Fettmasse nötigten sie, den Kopf zurückzuneigen. Sie hatte übrigens auf die Mode ihrer Zeit niemals verzichten wollen; sie behielt das Kleid mit dem Rankenmuster, das gelbe Tuch und die Helmhaube der klassischen Fischweiber, auch die laute Stimme, die flinken Bewegungen, die in die Seite gestemmten Fäuste, die Zungengeläufigkeit mit der vollen Kenntnis des Fischmarktkatechismus. Ihr tat es leid um den Innocenz-Markt; sie sprach von den ehemaligen Rechten der Hallendamen und mengte in ihre Geschichten von den Faustschlägen, die mit Polizeiinspektoren gewechselt wurden, Erzählungen von Besuchen bei Hofe, zur Zeit Karls X. und Louis-Philipps, im Seidenkleide und mit großen Blumensträußen in der Hand. Die Mutter Méhudin, wie man sie nannte, war zu Saint-Leu lange Zeit die Fahnenträgerin des frommen Vereins von der heiligen Jungfrau gewesen. Bei den Umzügen und in der Kirche trug sie ein weißes Kleid und eine ebensolche Haube mit Seidenbändern und hielt mit ihren fetten Fingern die vergoldete Stange der reichbefransten Seidenfahne mit dem gestickten Muttergottesbilde sehr hoch.
Man erzählte sich im Stadtviertel, die Mutter Méhudin habe viel Vermögen erworben. Man sah es ihr nicht an, höchstens an dem massiven Geschmeide, mit dem sie an Festtagen Hals und Arme schmückte. Später konnten ihre zwei Töchter sich nicht miteinander vertragen. Die jüngere, Claire, eine träge Blonde, klagte über die Roheiten Louisens und sagte mit ihrer schleppenden Stimme, sie werde niemals die Magd ihrer Schwester sein. Da sie schließlich gerauft haben würden, trennte sie ihre Mutter. Sie überließ Louisen ihren Verkaufsstand in der Abteilung für Seefische. Claire, die vom Rochen- und Heringsgeruch hustete, begann einen Handel mit Süßwasserfischen. Obgleich sie geschworen hatte, sich zurückzuziehen, ging die Mutter von der einen zur anderen, mengte sich in den Verkauf und verursachte ihren Töchtern viel Verdruß durch ihre schmutzigen Frechheiten.
Claire war ein phantastisches Geschöpf, sehr sanft und doch stets im Streite. Sie handelte immer nur nach ihrem Kopfe, sagte man. Mit ihren träumerischen, keuschen Gesichte hatte sie einen stummen Eigensinn, einen Geist der Unabhängigkeit, der sie dazu trieb, für sich allein zu leben; sie nahm nichts so auf wie die anderen, war an einem Tage von einer unbeugsamen Rechtlichkeit, am anderen Tage von einer empörenden Ungerechtigkeit. Oft brachte sie den ganzen Markt dadurch in Aufruhr, daß sie ohne erklärlichen Grund die Preise erhöhte oder verringerte. Ihre angeborne Feinheit, ihre zarte Haut, die das Wasser der Fischbehälter immer frisch erhielt, ihr kleines Gesicht von verschwommener Zeichnung, ihre geschmeidigen Glieder mußten, wenn sie sich einmal den Dreißigern näherte, schwerfällig werden und in die Breite gehen. Allein mit zweiundzwanzig Jahren war sie eine Madonna von Murillo inmitten ihrer Karpfen und Aale, wie Claude Lantier oft sagte, ein Murillo, der oft mit struppigem Haar erschien, mit plumpen Schuhen und mit Kleidern, die wie mit der Hacke zugeschnitten waren und sie kleideten wie ein Brett. Sie war gar nicht eitel und zeigte oft große Verachtung, wenn Louise, mit ihren Bandschleifen Staat machend, sie wegen ihres schief geknüpften Busentuchs neckte. Man sagte, daß der Sohn eines reichen Kaufmanns aus dem Stadtviertel in der Welt herumreiste aus Wut darüber, daß er von ihr kein freundliches Wort hatte erlangen können.
Louise, die schöne Normännin, hatte sich zärtlicher gezeigt; ihre Heirat mit einem Angestellten der Kornhalle war eine abgemachte Sache, als ein stürzender Mehlsack den jungen Mann erschlug. Nichtsdestoweniger genas sie sieben Monate später eines kräftigen Knaben. In der Umgebung der Méhudin betrachtete man die schöne Normännin als Witwe. Die alte Fischhändlerin pflegte zu sagen: »Als mein Schwiegersohn noch lebte ...«
Die Méhudin waren eine Macht. Als Herr Verlaque Florent in seine neuen Obliegenheiten völlig eingeführt hatte, empfahl er ihm, gewisse Händlerinnen mit Rücksicht zu behandeln, wenn er sich das Leben nicht unmöglich machen wolle. Er trieb die Teilnahme so weit, daß er ihn in die kleinen Geheimnisse des Amtes einweihte, wie man da ein Auge zudrücken, dort eine gewisse Strenge heucheln müsse, und welches die kleinen Geschenke seien, die man annehmen dürfe. Ein Aufseher ist gleichzeitig ein Polizeikommissar und ein Friedensrichter, der auf dem Markte die Ordnung und den Anstand aufrecht erhält und die kleinen Streitigkeiten zwischen Käufern und Verkäufern schlichtet. Florent, der von schwachem Charakter war, wurde überstreng und schoß über das Ziel, so oft er sein amtliches Ansehen geltend machen sollte; die Bitterkeit, die seine langen Leiden in ihm zurückgelassen und sein finsteres Pariagesicht waren ein Nachteil mehr für ihn.
Die Taktik der schönen Normännin war die, einen Streit mit ihm anzufangen. Sie hatte geschworen, daß er seinen Platz nicht zwei Wochen behalten dürfe.
Ei, sagte sie eines Morgens zu Frau Lecoeur, der sie begegnete, – glaubt etwa die schöne Lisa, uns aufhalsen zu können, was sie stehen gelassen? ... Wir haben einen besseren Geschmack als sie ... Ihr Schatz ist abscheulich!
Wenn Florent nach der Versteigerung seinen Rundgang durch die überschwemmten Gänge machte, sah er sehr wohl die schöne Normännin, die mit einem frechen Lachen ihm nachblickte. Ihr Verkaufstisch in der zweiten Reihe links, in der Nähe der