Aufregend war es immer. Hugo Portisch
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Wir waren uns einig: Wir wollten versuchen, so lange wie möglich nicht in diese Kaserne zu gehen. Obwohl wir auf den Plakatwänden in Prag die Kundmachungen lasen, wer gerade wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet worden sei. Auf den Straßen gab es Patrouillen, denen galt es auszuweichen. Naheliegend war, ins Kino zu gehen, so oft wie möglich. Und schlafen? Auch das bot sich an: In den großen Hallen des Prager Hauptbahnhofs lagerten jede Nacht viele Flüchtlinge. Das taten wir nun auch. Aber nicht lange. Eines frühen Morgens tauchte überraschend eine SS-Patrouille auf und kontrollierte alle Anwesenden, auch uns. Ob wir denn wüssten, wie man zu der in unserem Marschbefehl angeführten Kaserne käme? Nein, sagten wir. Das treffe sich ja gut, hieß es, die Patrouille werde jetzt in genau diese Kaserne zurückkehren, wir könnten uns ihr gleich anschließen.
Vor dem großen Tor der Kaserne stand ein SS-Posten. Als wir an ihm vorbeigingen, fragte ich mich, ob wir hier noch lebend herauskämen. Denn mitten im Hof standen schon einige uniformierte Männer, die ebenfalls von Patrouillen aufgegriffen worden waren und offensichtlich als Deserteure galten. Wir mussten neben ihnen Aufstellung nehmen, den Marschbefehl aus Wien hatte man uns abgenommen. Namen wurden aufgerufen, die Männer neben uns verschwanden, einer nach dem anderen. Dann waren auch wir an der Reihe. Wir rechneten mit dem Schlimmsten. Zu viert brachte man uns in die Schreibstube. Das sah nun nicht nach Standgericht aus. Der Mann dort in SS-Uniform hielt ein Schreiben in der Hand. Ein Fernschreiben aus dem Wiener Arsenal, wie sich herausstellte. Es enthielt unsere Namen und eine Korrektur: Wir seien irrtümlich nach Prag in Marsch gesetzt worden – und sollten jetzt unverzüglich zu einer SS-Panzergrenadier-Division in Nienburg an der Weser weitergeleitet werden. »Wo ist Nienburg an der Weser?«, fragten wir. »Bei Paderborn«, sagte der Schreiber. Das aber wussten wir schon aus den aktuellen Wehrmachtsberichten in der Zeitung: Paderborn war am Tag zuvor »in die Hand des Feindes gefallen«. Auch der Schreiber wusste das. Er musterte uns und sagte dann ganz ungeniert: »Da lauft ihr halt gleich in Zivil über.«
In diesem Moment war ich nur verblüfft, konnte meinen Ohren kaum glauben. Aber im Nachhinein klang es mir so, als hätte uns der Mann das im Ton des Sich-selbst-Bedauerns gesagt, weil er selbst diese Chance nicht hatte. Er stellte uns einen neuen Marschbefehl aus – nach Nienburg an der Weser. Und niemand hatte danach gefragt, wieso wir für den Weg von Wien nach Prag drei Wochen gebraucht hatten.
Noch einmal zurück zum Hauptbahnhof. Dort schien alles in Auflösung begriffen zu sein. Wir fragten nach Nienburg an der Weser, dem Ziel unseres Marschbefehls. Geht nicht, in dieser Richtung bestenfalls noch bis Aussig an der Elbe. »Auch bis Brüx?«, fragte ich. »Ja, das können Sie versuchen.« Die Schwester meiner Mutter hatte dort ein Haus. So fuhren wir nach Brüx in das Haus meiner Tante. Dort hörten wir Radio, das deutschsprachige Radio Prag. Das klang aufgeregt. Die amerikanischen Truppen hatten Pilsen erreicht. Offenbar erwartete man, dass sie nun rasch nach Prag vorrücken würden. Aber dann hieß es, die Amerikaner hätten den Vormarsch eingestellt. Und – die Tschechen in Prag hätten sich bewaffnet und würden auf »die Deutschen« schießen – auf die Wehrmacht, die Waffen-SS? Doch bald darauf unterbrach Radio Prag seine Sendung. Tags darauf wussten wir weshalb: Vor unseren Fenstern sahen wir die ersten sowjetischen Soldaten. Sie waren dabei, in Brüx einzumarschieren. Den Soldaten folgte ein langer Zug von Panjewagen, von Pferden gezogene Leiterwagen, der Nachschub.
Wie in Prag, so trat auch in Brüx jetzt eine tschechische bewaffnete Truppe auf. Aber hier wurde nicht geschossen. Einige Tage später war der Krieg zu Ende. Deutschland hatte kapituliert. Welch ein Moment! Die Diktatur ist zu Ende, und hoffentlich kommt keine neue! Sehr schnell bildete sich in Brüx ein tschechischer sogenannter »Nationalausschuss«, auf dessen Anordnung offenbar nun alle Wohnungen und Häuser von den Milizionären durchsucht wurden. Wir meldeten uns bei diesem Nationalausschuss und ersuchten um eine Reisebewilligung nach St. Pölten. Sie wurde uns ausgestellt. Auch der Zugsverkehr nach Prag wurde rasch wieder aufgenommen. Wir nahmen Abschied von meiner Tante, hatten aber keine Ahnung, dass ihr und der Familie ihres Mannes in Kürze die Enteignung und Vertreibung aufgrund der seither berüchtigten Beneš-Dekrete bevorstand. Wir fuhren über Prag nach Böhmisch Budweis und von dort – immer noch mit der Bahn – bis an die österreichische Grenze bei Gmünd, Niederösterreich. Von dort allerdings ging es zu Fuß weiter.
Bei Pöchlarn trennten sich unsere Wege. Unsere Odyssee war zu Ende. Meine Freunde wollten versuchen, nach Oberösterreich durchzukommen, ihre Eltern vermuteten sie in Traunkirchen im Salzkammergut. Wir nahmen uns vor, sobald wir wussten, wo wir landen würden, einander Briefe zu schreiben – hauptpostlagernd Wien. Und das funktionierte sogar. Ein Jahr später besuchte ich sie in Traunkirchen.
Meine Eltern und ich wollten von St. Pölten zurück nach Preßburg. Mein Vater hatte sich uneingeschränkt zur Demokratie und der tschechoslowakischen Republik bekannt. Das wurde zwar anerkannt, aber für einen »Deutschen«, und als solche galten auch die Österreicher, sei nun kein Platz mehr in der neuen Beneš-Republik. Für meinen Vater war St. Pölten ja eigentlich eine Heimkehr und für mich auch keine Fremde, denn ich war als Kind oft in den Ferien auf dem Bauernhof meiner Großeltern.
Mit Eifer machte sich mein Vater daran, die Zeitungen des niederösterreichischen Pressvereins aufzubauen, die Zeitungen für St. Pölten, Krems, Amstetten und Wiener Neustadt. Niemand beneidete ihn um diese Aufgabe, niemand anderer wollte sie auch übernehmen. Denn das war Pressearbeit in der sowjetischen Besatzungszone. Die Regierungsmitglieder taten sich leicht, sie waren unangreifbar. Sie fuhren an den Wochenenden durch Niederösterreich und hielten wichtige Reden – gegen die Übergriffe der Sowjetsoldaten, gegen die USIA-Läden, gegen die sowjetische Ausbeutungspolitik. Darüber hatten die niederösterreichischen Zeitungen zu berichten und taten das auch. Aber jeden Freitag musste mein Vater vor dem Zensur-Offizier der Sowjets in St. Pölten erscheinen, um sich für den Inhalt seiner Zeitungen zu verantworten. Da kam es fast immer zu Auseinandersetzungen und Abmahnungen, und man konnte nicht sicher sein, wie das letztlich ausgeht.
Ich war einige Male dabei, wenn mein Vater am Freitagmorgen aufbrach. Er zog sich zwei Paar Socken und winterfeste Schuhe an, und er steckte sich eine Handvoll Würfelzucker in die Taschen. Das, so meinte er, hatte er in der russischen Kriegsgefangenschaft gelernt. Sollten die Sowjets ihn verhaften und verschleppen, musste er gutes Schuhwerk und zumindest die ersten Tage Nahrung dabeihaben. Was immer es auch genutzt hätte, er glaubte daran, ein Komplex aus der Kriegsgefangenschaft.
Jahrelang mussten meine Eltern ihre kleine Wohnung mit einer sowjetischen Offizierin im Rang eines Majors teilen, Küche und Bad inbegriffen. Sie wurde zwangseinquartiert. Im Jahr 1955 musste die Frau Major ihr Quartier räumen. Ich sah das Zimmer. Sie hatte es mit einer langen Schleife aus Klopapier dekoriert und auch ein Bild hinterlassen, offenbar das Einzige, das sie hatte: Josef Stalin. In den Wänden sah ich einige Einschusslöcher. Meine Eltern berichteten davon, die Majorin hatte oft Gäste und manchmal ging es sehr laut zu, einschließlich einiger Revolverschüsse. Offenbar nach Lust und Laune.
So hielt mein Vater den Posten als Chefredakteur der niederösterreichischen Zeitungen während der gesamten Besatzungszeit. Jahre später erhielt er dafür einen niederösterreichischen Orden und danach einen blaugelben Blumenkranz auf sein Grab.
Doch zurück zum Jahr 1945.
Wir haben nichts Glaubt an dieses Österreich
Ich wollte nicht Journalist werden. Ich wollte einen