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Beim Konflikt in und um die Ukraine war die Absicht der Ukrainer, sich der Europäischen Union zuzuwenden, der Auslöser für Russlands aggressives Eingreifen.

      Wir lesen uns etwas vor Angekommen in der »Tageszeitung«

      Am 2. Januar 1948 betrat ich das Redaktionszimmer der Wiener »Tageszeitung«, das für die nächsten vier Jahre mein berufliches Zuhause sein würde. In diesem einen Zimmer war die gesamte Auslandsredaktion der Zeitung untergebracht. Es war nicht sehr groß, und doch standen hier drei Schreibtische und zwei Schreibmaschinen-Tischerl. Begrüßt wurde ich von zwei Damen und zwei Herren. Die Herren hießen Karl Polly und Hans Dichand, die Damen Prerovski und Smoliner.

      Polly war der Chef, ein Herr mittleren Alters. Von dem schweren Schicksal, das er hatte, erfuhr ich erst im Laufe der Zeit. Im Jahre 1938 hatte sich Polly als Legitimist (Monarchist) im Widerstand gegen Hitler und gegen den »Anschluss« betätigt. Von der Gestapo aufgespürt, wurde er vor Gericht gestellt, verurteilt und verbrachte die sechs Jahre bis zum Kriegsende in einem Münchner Gefängnis. Befreit und heimgekehrt, arbeitete er wieder als Redakteur und leitete jetzt in dieser Zeitung das Ressort Auslandspolitik.

      Hans Dichand, bedeutend jünger als Polly, kam aus Graz, wo er beim Britischen Nachrichtendienst untergekommen war, dem Pressedienst der britischen Besatzungsmacht in der Steiermark. Er war daher hier schon als ausgebildeter Redakteur anerkannt. Ich nicht. Mir stand nur der im Kollektivvertrag für Journalisten vorgesehene Einstiegstitel zu: »Redaktionseleve im ersten Jahr«. Kein Witz, das hieß so. Die beiden Damen waren Sekretärinnen, jedoch nur mit der Aufgabe betraut, die Schreibarbeiten für die drei Redakteure zu erledigen. Wie sich herausstellte, war das für mein weiteres Journalistenleben von größerer Bedeutung. Denn zu meiner Überraschung schrieb keiner der beiden anderen Herren seine Berichte und Kommentare selbst auf der Schreibmaschine, sie diktierten sie einer der beiden Sekretärinnen. Und das wurde auch von mir so erwartet. Das aber setzte voraus, wie mir schnell bewusst wurde, dass man alle seine Gedanken schon parat haben musste, ehe man zu diktieren begann, sonst musste man lange Gedankenpausen einlegen, was Zeit kostete und ein wenig peinlich war. Aber das war trainierbar, wie mir Herr Polly klarmachte, und – wie ich merkte – tatsächlich erlernbar.

      Dichand und ich betrieben auch bald ein Training anderer Art. Wir lehrten uns gegenseitig Journalismus. Denn im Grunde genommen hatten wir ja beide sehr wenig Erfahrung auf diesem Gebiet. Dichand war ein gelernter Buchdrucker. Dieses Handwerk hatte er von der Pike auf gelernt, er war Lehrling, wurde nach der Art der Buchdrucker durch »Gautschen« – bei diesem Brauch wurde man in ein Fass von Wasser getaucht – zum Gesellen befördert. So erzählte er es mir mit Freude und Stolz. Dichand war ein guter Erzähler, seine Geschichten waren spannend und unterhaltsam. Er hatte für sein Alter schon viel erlebt, wurde ganz jung zur deutschen Marine eingezogen, doch aufgrund seiner Italienischkenntnisse als Verbindungsmann auf einem italienischen Zerstörer eingesetzt. Seine historische Tat in dieser Zeit setzte er, als Italien 1943 kapitulierte und er den italienischen Kapitän dazu brachte, sich weder den Briten zu ergeben noch für Mussolini weiterzukämpfen, sondern Mallorca anzulaufen und sich dort von den Spaniern entwaffnen zu lassen. Seine Bildung, so Dichand, erwarb er, indem er in seiner Lehrzeit als Buchdrucker sämtliche die Druckerei passierende Bücher las.

      Das verband uns: Wir lasen und bewunderten die Texte großer Schriftsteller. Da hatten wir viel nachzuholen. Denn an einige kamen wir erst jetzt heran: Ernest Hemingway, John Steinbeck, Jack London, aber auch Egon Erwin Kisch, Lion Feuchtwanger, Kurt Tucholsky und – für uns der größte – Stefan Zweig sowie noch viele andere. Wir lasen sie daheim und meist in der Nacht. Am nächsten Vormittag zitierten wir die Textstellen, die uns besonders imponiert hatten, und lernten daraus.

      Auch waren wir das Redaktionszimmer, in dem am lautesten diskutiert wurde, was die Kollegen in den Nachbarräumen immer wieder so störte, dass sie bei uns die Tür aufrissen und »Ruhe« riefen. Was uns so aufregte, waren die Ereignisse der Tagespolitik. Wir nahmen nichts gelassen hin. Zu allem hatten wir unsere Meinung und die tauschten wir lebhaft aus. Natürlich ging es immer wieder um die Haltung und die Taten der Besatzungsmächte, die ja nicht nur den österreichischen Alltag beeinflussten, sondern auch die Weltpolitik gestalteten. Und was Dichand und mich sehr beschäftigte, war die Frage, wie es mit Europa weitergehen werde.

      Winston Churchill, der Premierminister, der Großbritannien durch den Krieg geführt hatte, hielt in Zürich eine Rede, die uns den Atem anhalten ließ: Europa werde nur dann eine große Zukunft haben, wenn es zur Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland komme. Diese Aussöhnung sei die Voraussetzung für die Errichtung der »Vereinigten Staaten von Europa«. Welch eine Vision! Und wie unglaublich sie doch klang, so kurze Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in Anbetracht des gegenwärtigen Zustands Europas. Aber wie sie uns gerade deshalb begeisterte! Ja, das war der Weg, der Ausweg aus dem Zustand, in dem sich Europa und wir uns alle noch befanden, darin waren Polly, Dichand und ich uns einig. In diesem Redaktionszimmer der Wiener »Tageszeitung«.

      Hier gab es auch andere Gespräche, eines, an das ich mich auch gut erinnere. Es wurde zwischen Dichand und Frau Prerovski geführt. Frau Prerovski war vor dem Krieg die Sekretärin des letzten Chefredakteurs der »Kronen Zeitung« gewesen. Sie schwärmte von dieser Zeit und schilderte die großen Erfolge dieser Zeitung in hellen Farben. Dichand war ein aufmerksamer Zuhörer und erklärte einige Male: »Die ›Kronen Zeitung‹, die müsste man neu gründen!« Und ich glaube, dass das damals schon sein Vorsatz war.

      Ich werde noch schildern, wie es dann tatsächlich zur Gründung der »Kronen Zeitung« durch Hans Dichand kam. Aber wenn ich mich jetzt an unsere Diskussionen und unsere Europaträume erinnere, dann denke ich auch an das letzte Gespräch, das ich mit Hans Dichand hatte, bevor er starb. Wie war das zu vereinbaren, jenes Europa, das wir uns so wünschten, und der scharfe Kurs gegen die Europäische Union, den Dichand in der »Kronen Zeitung« eingeschlagen hatte? Seine Begeisterung für Europa, sagte Dichand, habe nie nachgelassen, sei heute so lebendig wie damals, doch mit der Union sei man, seiner Meinung nach, den falschen Weg gegangen.

      Meine etwas heftig vorgetragene gegenteilige Meinung ertrug Dichand mit einem milden Lächeln. Da erinnerte ich mich: Dich and hatte die Gabe, für das, was ihn sein untrügliches »G’spür« für das Populäre vertreten ließ, jeweils eine Erklärung zu entwickeln, warum das auch richtig und rechtens sei. Und das vertrat er dann hartnäckig.

      Die Wiener »Tageszeitung« gab es erst kurze Zeit. Sie wurde auf Wunsch Julius Raabs gegründet, der Präsident der Bundeswirtschaftskammer war. Ihm schwebte eine Zeitung vor wie die in der Schweiz erscheinende »Die Tat«, ein modern gestaltetes Blatt, liberal und international ausgerichtet, vor allem aber den schweizerischen Wirtschaftsinteressen dienend. Wie in der »Tat« gab es auch in der »Tageszeitung« nicht nur den Leitartikel, sondern auf Seite drei eine Spalte, in der drei bis vier Stellungnahmen zu aktuellen Tagesthemen erschienen – Polly nannte sie »Glossen«. Viele von ihnen galten Weltereignissen und der Politik der Besatzungsmächte, und diese Glossen wurden von der außenpolitischen Redaktion erstellt, hauptsächlich von Dichand und mir. Eine journalistische Spielwiese, wie sie nur wenigen Anfängern in diesem Beruf damals und bis heute geboten wurde und wird.

      Ereignisse, über die zu berichten war, gab es genug. Europa und mit ihm Österreich steuerten auf den ersten Höhepunkt des Kalten Krieges zu. Der Marshallplan war angelaufen und sah, wie berichtet, eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit aller am Plan teilnehmenden europäischen Staaten vor. Diese war jedoch nur möglich, wenn die Volkswirtschaften der einzelnen Länder aufeinander abgestimmt werden, die Voraussetzung dafür waren gesunde Währungen.

      Der österreichische Schilling aber ist krank. Ein Drittel des Staatsbudgets muss den Besatzungsmächten – mit Ausnahme der Amerikaner – für den Unterhalt ihrer Truppen in Österreich zur Verfügung gestellt werden, das heißt, die österreichischen Steuerzahler haben für die Besetzung ihres Landes aufzukommen. Jede der alliierten Mächte hat außerdem große Beträge

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