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In »Fräulein Stark« ist die Katz’sche Ursprungsgeschichte präsent als das heimlich-unheimliche, weggeschlossene und gerade darum so geheimnisvoll anziehende Energiezentrum; tief verborgen und gut bewacht in den Bücherkatakomben der St. Galler Stiftsbibliothek. Hier betreibt der pubertierende Ich-Erzähler zu Besuch beim Onkel und Stiftsbibliothekar familiengeschichtliche Studien. Zusammen mit seinen fetischistischen Erkundungen als »Pantoffelministrant«21 zu Füßen der bestrumpften und in High Heels daherkommenden Besucherinnen des Bibliothekssaals bilden sie eine Archäologie zugleich des Ursprungs und des Begehrens. Verdrängte nomadisch-stromernde Herkunft, verbotene Sexualität, die vom sechsten Gebot nicht zu bändigende animalische Seite des Menschen, das Sinnliche und Intuitive, die Affinität für das Unangepasste und Widerständige und damit auch das Gespür für das Verklemmte und Verlogene des bürgerlich-bigotten Milieus, »die glockenläutende, unten drunter Katz tragende Stadt«;22 all dies findet in der feinen Nase der Katzen, mit der sich der Junge am Ende als Attribut seiner Identität und seines Anders-Seins identifiziert, seinen Ausdruck.
In »Vierzig Rosen« wird »der edle Name Katz« in einer Mischung aus Stolz und Trotz auf dem Dach der Familienvilla mit leuchtenden Lettern in den Schweizer Himmel geschrieben.23 Marie, die jüdische Fabrikantentochter, ermöglicht mit ihrem Katzenwesen, ihrer Eleganz, ihrer Stilsicherheit, ihrem erotischen Flair und ihrer gesellschaftlichen Geschmeidigkeit dem biederen Dorfjungen Max Meier den politischen Aufstieg, zahlt für die öffentliche Anerkennung, die sie dadurch erhält, aber den hohen Preis der Unterdrückung ihrer künstlerisch unbürgerlichen Seite und der permanenten Anpassung. So spiegelt ihr persönliches Schicksal die Assimilationsgeschichte vieler Schweizer Juden, für die Konversion und Tabuisierung der Familiengeschichte die Bedingung für Integration war. Dabei betonen die Schicksale der Protagonisten gleichzeitig, dass das Katzenwesen trotz aller versuchten Domestizierung durch Internat und Kirche dringend gebraucht wird, dass Marie als Gesellschaftsdame, Max Meier und der Grosse Kater als Politiker und auch der Stiftsbibliothekar als Geistesmensch nur erfolgreich sein können, indem sie ihre katzisch-kreatürlich-kreative Seite sublimierend kultivieren.
In »Heimkehr« will Heinrich Übel der geforderte »Curriculum Vitae von max. einer Seite«24 als Vorbedingung für Immatrikulation, Promotion und Vaterstolz unter anderem deshalb nicht gelingen, weil die Ahnengeschichte der Katz eben nicht einseitig darzustellen ist. Auf 370 Seiten angeschwollen, bildet sie eine zentrale Säule des Übel’schen Papierpalastes. In dessen Mitte residiert, Zuflucht vor Bedrängung und Verfolgung suchend wie ehedem die Migrantenfamilie Katz, Kater Dada, dessen Name ja auch Protest gegen bürgerlichen Biedersinn und geradlinige Narrative signalisiert. Auch Heinrich Übel, den Bewohner der Grauen Gasse 10 im Zürcher Niederdorf, verbindet mit den Dadaisten aus der nahen Spiegelgasse 1 der antibürgerliche Habitus und die Ablehnung des Geordneten. Er tritt zwar nicht als magischer Bischof auf, Lautgedichte zelebrierend, wie einst Hugo Ball im Cabaret Voltaire, gibt sich aber ähnlich provokativ als grotesker, kotverschmierter Weihnachtsmann. Seinen Papierpalast, das chaotisch-ungeordnete »mehrtausendseitige Epos«,25 schleppt dieser Bischof samt Kater mit ins »Fräcktal«, angetrieben von der urbürgerlichen Sehnsucht aller Rebellen und verlorener Söhne, endlich vom Vater anerkannt zu werden.
Kater Mufti ist Kater Dadas lebensgeschichtliches Pendant. Er begegnet uns in zwei Essays, die das für Hürlimann so charakteristische Philosophieren aus der Anekdote zur Meisterschaft treiben, indem sie erzählte Philosophie mit persönlichen existenziellen Grenzsituationen verweben. In »Der Kosmopolit wohnt im Kosmos« von 1995 und ähnlich in »Nietzsches Regenschirm« zwanzig Jahre später erzählt Hürlimann von dem Kater, der sich in seiner Wohnung in Ebmatingen, der anonymen und seelenlosen Züricher Satellitenstadt, heimisch machte und ihn über die fristlose Kündigung (wegen Verstoßes gegen das Haustierverbot) ins heimatlich rurale Territorium führte, nach Willerzell über dem Sihlsee gegenüber dem Kloster Einsiedeln und nahe der Brücke. Heimkehr mit und durch den Kater, in genau das Terrain, das in »Heimkehr« fiktionalisiert wird, trotz allem »on ne revient jamais«.26 Im literarischen Niederschlag der Ebmatinger Zeit, dem Novellenband »Die Satellitenstadt« wird Mufti nicht explizit erwähnt, aber Katzen spielen bereits hier eine wichtige Rolle als »Göttinnen der Melancholie«,27 als Schutzgeister gegen die lähmende Künstlerinnen- und Dichtermelancholie, die den Erzähler und seine Partnerin, die Schauspielerin und Chansonette Ka, befallen. In Willerzell gibt Mufti an, wo es langgeht. Hürlimann beschreibt den »Abendspaziergang mit der Katze«28 im Zwischenreich von Hell und Dunkel, in dem die Dinge eine andere Gestalt annehmen, die Perspektiven wechseln und Transformation möglich wird, als Lehrgänge und Initiationsritual. »Die Wanderung begann ungefähr eine Stunde vor der Dämmerung. Mufti stieß mich mit seiner Schnauze an oder maunzte, bis ich den Schirm ergriff, dann zog er los, ab in den Wald, und wenn ich jemals im Leben einen konsequenten Lehrer hatte, dann war es dieser Kater. Er führte mich in das Geheimnis der Wiederholung ein. Er lehrte mich, wieder und immer wieder denselben Weg zu gehen. (…) wie ich bald merkte, wurde die täglich wiederholte Strecke durch die Wiederholung nicht langweiliger, vielmehr spannender von Gang zu Gang. Denn jeder Punkt, der angepeilt und kurz beschnuppert wurde, teilte nicht nur seinen gegenwärtigen Zustand mit, sondern auch das, was sich von gestern auf heute an ihm verändert hatte.«29 Hürlimann beschreibt die Einübung in ein genaues beobachtendes Schauen, in Momente des Innehaltens, der Entschleunigung und Vertiefung, der Andacht für die Veränderungen in der Zeit. So wird die Katze zum Gewährstier für eine Poetologie des Lokalen, der Aufmerksamkeit für den Wandel der Zeit, der Genauigkeit und der Wiederholung, die Hürlimanns Schreibverfahren eng verbindet mit seiner Kulturkritik an den Verflachungen der Moderne und dem Verlust der Vertikalen in der Gegenwart. Es wird im Zwielicht dieser Anekdote, dieser Erfahrung klar, dass sich zentrale Elemente des Hürlimann’schen Denkens und Schreibens seiner Bereitschaft verdanken, sich den Wahrnehmungsformen und Erfahrungsräumen der Katzen zu öffnen. Das bestätigt auch ein Interview aus dem Jahre 2014, in dem die Spaziergänge und »der kluge Kater Mufti, mein Lehrer und Meister« wieder erwähnt werden. Wie Dada hilft Mufti, in den Grenzzonen von Leben und Tod zu navigieren. »Obwohl er längst tot ist (…) lebt sein Weg in mir weiter. Während meiner Krankheit kam es häufig vor, dass ich Angst hatte oder kurz vor einer Panik war. Da schloss ich die Augen, sah ein paar Schritte voraus den Kater, und wenn ich ihm folgte, wenn wir wieder unseren Weg gingen, wie früher, fand ich wie von selbst in die Spur zurück.«30
Zur poetologischen Katze tritt so die Katze als philosophisches Tier. Diesen Begriff Nietzsches zitiert Hürlimann in »Nietzsches Regenschirm« in Hinblick auf unsere leib-seelische Doppelnatur zwischen »hehren Gedanken und animalischen Trieben«.31 In den beiden Essays werden Nietzsche und Mufti gemeinsam als Lehrmeister Hürlimanns benannt und dargestellt. Was sie zusammenbringt, sind, kurz gesagt, Schirm und Schweif. In einer weit ausholenden kulturgeschichtlichen Reflexion rekonstruiert der Autor die Ursprünge des Schirms als »Zauber- oder Machtstab«,32 der die Ausgespanntheit des Menschen zwischen Leibnatur und kosmischem Himmel, Triebverhaftung und Transzendenzsehnsucht darstellt und als kraftvolles Symbol dieser Mittlerstellung des Menschen die Beziehung zur Vertikale zugleich ausdrückt und stärkt. Die cartesische Subjekt-Objekt-Spaltung als Ursprungstrauma der Moderne, die heutige Verflachung der Welt in der Horizontalen, der damit einhergehende geschichts- und transzendenzvergessene Verlust von Vertikalität, das sind Grundelemente der Hürlimann’schen Moderne- und Kulturkritik, die in »Nietzsches Regenschirm«