Gestillt. Daniel Zindel
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Sei herzlich gegrüßt Dein David
192. Korinther 3,6
Lieber David,
das mit dem »Vorlesungs- und Studierstubengott« meiner Nichte hat mich getroffen. Als ich mein Theologiestudium begann, war ich echt begierig darauf, mehr über Gott zu erfahren. Und ich interessiere mich immer noch für theologische Literatur. Es ist für mich so etwas wie ein Ausgleich, nur bin ich in letzter Zeit nicht mehr dazu gekommen. Auch Sport treibe ich kaum mehr. Ich weiß, dass wir bei Kritik an unseren Nächsten überempfindlich reagieren. Aber es hat mich einfach verletzt, wie Du das ehrliche intellektuelle Ringen meiner Nichte in der Frage nach Gott lächerlich machst. Wie kannst Du Dir anmaßen, den Glauben meiner Nichte zu beurteilen? Ich erwarte von Dir eine Entschuldigung, Dave! Offenbar hat der himmlische Verfasser bei der zweiten, verbesserten Auflage Deines Wesens einen Fehler übersehen, dass Du immer noch so unbarmherzig richten kannst. Entschuldige den Ton, ich bin echt schlecht drauf!
Dabei hatte der Tag doch so gut begonnen: Ich stand wie geplant sehr früh auf und war bei der Präsentation des überarbeiteten Marketingkonzeptes toppräsent. Es ist durchgekommen, mit viel Lob sogar. Durfte mit dem Verwaltungsrat zum Mittagessen und der Präsident hat mir das Du angeboten. Alle Mitglieder der Geschäftsleitung gratulierten mir und Müller fragte mich beim Dessert, ob ich nicht Mitglied der Volkspartei werden wolle. »Es gibt nichts Besseres, um sich seine Netzwerke aufzubauen, als die Politik«, sagte er. Es gibt niemanden, den Müller nicht kennt. Nun ist mir die Volkspartei etwas zu »völkisch«, aber mit dem Stichwort der Politik hat er mir einen Floh ins Ohr gesetzt; die Wirtschaftspartei wäre auf mich zugeschnitten. Der Verwaltungsratspräsident fuhr mich nach dem Essen in seinem Wagen zum Firmensitz zurück, mit Genugtuung teilte ich ihm mit, dass ich dieselbe Automarke wie er fahre. Er sprach wie ein Kenner über Autos, obschon er keine Ahnung davon hat.
Ich kam dann spät nach Hause, duschte und legte mich neben meine Frau ins Bett. Ich wusste, dass sie nur so tat, als schliefe sie, ich erkenne das an ihren Atemzügen, sie sind dann gekünstelt tief und die Pausen zwischen dem Ein- und dem Ausatmen sind ein bisschen zu lang. Ich strich ihr sanft über den Nacken. Sie sagte, dass ich das gefälligst sein lassen solle. Ich sagte, es laufe zwischen uns ja gar nichts mehr und warf ihr noch weitere Dinge an den Kopf. Sie gab wie immer mit präzisen Dolchstichen zurück, ich sei ein abgebrühter Egoist, der nicht lieben könne, und hinter meiner Geltungssucht stecke nur ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl; ich spiele im Geschäft den eitlen Gockel und zu Hause lasse ich mich fallen oder aber hänge den Chef heraus. Ich griff dann zum Zweihänder. »Wenn hier nichts mehr läuft, meine Hühner im Geschäft erwarten den Gockel freudig, mit offenen Flügeln.« Sie sagte dann, ich solle augenblicklich das Schlafzimmer verlassen. »Du kannst dich von jetzt an im Gästezimmer einrichten, du lächerliches Ekel«, rief sie mir hinterher.
Nun sitze ich im Gästezimmer. Habe in der Bibel gelesen. Irgendwo im Alten Testament. Nichts hat mich angesprochen, außer dass ich entdeckt habe, dass unser miserabler Schlafplatz im Gästezimmer schon in der Bibel vorkommt.20 (Was haben wir unseren Gästen bislang zugemutet!) Habe dann den Geist aktiviert und versucht, die Seele zu beruhigen. Es funktionierte nicht. Die Seele raste, war verletzt, rachsüchtig, verzagt, trotzig. »Wenn die mich rauswirft, dann werde ich es ihr schon zeigen. Morgen Abend gehe ich mit Sandra aus (so heißt die neue Grafikerin).«
Ich ließ meinen Fantasien freien Lauf, malte mir das Abendessen mit ihr aus, doch ich merkte, wie sich etwas in mir dagegen sträubte. Es ist noch schwierig, dies zu beschreiben. Aber tief in mir war mir ganz klar, dass ich das eigentlich nicht wollte; ich wusste in meinem Herzen, wo ich hingehöre. An die Seite meiner Frau. Ins Gästezimmer meines eigenen Hauses ausquartiert, wurde mir bewusst, dass ich einerseits meine Ehe und Familie unbedingt will, aber dass wir es andererseits so nicht schaffen können. Das hat mich völlig gestresst. Mir kommt es so vor, als befänden wir uns in einer tödlichen Abwärtsspirale und ich kann nichts dagegen tun.
Ich habe dann zu Deinen Liedern gegriffen und blieb bei einem Satz hängen: »Schüttet Euer Herz aus, liebe Leute.«21 Ich tat das. »Gott, es geht mir so mies. Wir machen uns gegenseitig kaputt. Wir sind so ineinander verkrallt. Ich halte es kaum noch aus, ich ärgere mich über meine Frau; ich bin traurig und schäme mich; es kommt jetzt auch eine Wut hoch, dass ich wie gefangen bin in meiner Arbeit, in meinem Wesen, in meinen finanziellen Verpflichtungen. Ich will meine Ehe und mache sie zugleich kaputt. Ich bin so verzweifelt.« Ich weiß nicht, wie lange ich so gebetet habe, aber mir schien – verzeih den Ausdruck – als hätte ich mich bei Gott »ausgekotzt«. Ich war wie ausgeleert, erschöpft wie nach einem Marathonlauf. Zugleich war ich unendlich erleichtert und schlief sogleich ein.
Ich grüße Dich herzlich
Dein Reinhold
Lieber Reinhold,
vielen Dank für Deinen letzten Brief. Das ist etwas ganz Kostbares, zu wissen, wo man hingehört. Trau diesem inneren Gewissen! Vielleicht hast Du den Punkt erreicht, an dem Gott bei Dir Neues schaffen kann. Vielleicht ist es auch so, dass Ihr noch tiefer fallen werdet. Aber die Hand Gottes ist unter Euch ausgestreckt und sie wird Euch auffangen.
Bei mir ist es spät geworden. Nicht weil ich auf die Uhr geschaut hätte – wir leben ohne Maschine, welche den Fluss der Zeit künstlich in größere oder kleinere Portionen zerschneidet. Ihr richtet Euch nach dem Zeiger Eurer Uhren, wir nach einem inneren Rhythmus. Hier hast du das Gefühl, du bist immer zur rechten Zeit am rechten Ort, es begibt sich alles so leicht. Auch wenn es für mein inneres Empfinden spät geworden ist, das Licht hier ist immer gut. Es leuchtet, ohne zu blenden. Es wärmt, ohne dass man ins Schwitzen kommt. Es hat die Klarheit des Spätherbstes in den Bergen und ist doch mild und weich und wirft keine harten Schatten: es ist einfach göttlich!
Offensichtlich habe ich Dich mit diesem Ausspruch »Vorlesungs- und Studierstubengott« aufgerüttelt. Ich habe in der Tat lange gezögert, bis ich diese Worte gewählt habe. »Du wirst ihm damit Schmerzen zufügen«, habe ich gedacht. »Aber nicht zu seinem Schaden«, hat es in mir nachgeklungen. In dieser Sache möchte ich einfach hart bleiben. Es bekümmert mich zutiefst, wenn ich sehe, wie bei Euch durch menschliche, intellektuelle Anstrengungen Gott gesucht wird und verstanden werden will.
»Was im Hirn ist, ist im Hirn, und die Existenz ist die erste aller Eigenschaften«,22 sagte kürzlich Asmus an unserem Stammtisch. Es geht in erster Linie um Leben und erst dann um Lehre. Asmus ist ein absolutes Original. Letzte Woche erzählte er uns, wie er seinen 37. Geburtstag gefeiert hat. Hat dauernd mit einer Pistole herumgeknallt, damit sich ganz Wandsbek, so heißt das Nest, wo er wohnte, mit ihm freuen konnte. Asmus ist gelegentlich leicht frustriert, weil er in der goldenen Stadt mit ihrem wunderbaren Licht sein Lied »Der Mond ist aufgegangen« nicht mehr anstimmen kann. So war er froh, als er mitten in unserer, übrigens durch Deinen Brief ausgelösten (!) Diskussion über Glaube und Denken mit tragender Stimme doch noch passend zwei seiner Liedstrophen vortragen konnte.
»Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.