Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein

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Geheimnis Fussball - Christoph Bausenwein

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ja abgelegt werden können. Während der Alltag Pause hat, ist erlaubt, was sonst verboten ist, hier darf die Sau raus, die sonst im Stall bleiben muss. Wildfremde Menschen dürfen sich um den Hals fallen, sich ungebremstem Jubel hingeben, ungeniert brüllen, johlen, pfeifen und mit unflätigsten Flüchen und Beschimpfungen um sich werfen, oder, frei von jeder Scham, ihrer Verzweiflung freien Lauf lassen.

      Die Aufhebung der Verbote und die Befreiung von den Lasten und Zwängen des Alltags schaffen im Fußballfest eine Zeit für Gefühle aller Art. Fröhliche Ekstase ist nicht ausgeschlossen, genauso wenig aber auch das übelste Ressentiment aus der untersten Schublade der Vorurteile. Leute, denen man das außerhalb des Stadions nie zutrauen würde, versteigen sich zu Hasstiraden, andere geben rassistische Schmähungen von sich, bei einigen führt die Erregung zum Gewaltausbruch. Wegen dieser bösen Seiten der Enthemmung, die nicht nur mit der Alkoholisierung zu tun haben, galt der Fußball lange als nicht gesellschaftsfähig. Vor allem in den letzten Jahrzehnten hat man mit vielen Verboten, zahlreichen Sicherheitsmaßnahmen und hoher Polizeipräsenz versucht, das Fußballereignis zu reglementieren und zu zivilisieren. Darunter hat dann auch die positive Stimmung unter den Fans gelitten, so dass die Spieltage wohl nicht mehr ganz so tolle Tage sind wie früher. Trotzdem: Immer noch zeigt ein vollbesetztes Stadion von der äußeren Erscheinung her Ähnlichkeit mit den wilden und ungezügelten Formen des karnevalistischen Treibens. Fans haben sich verkleidet, ihre Gesichter sind bemalt, sie schwenken aufgeblasene Bananen, werfen Konfetti, machen Lärm mit Tröten und Rasseln, zünden Räucherkerzen an, früher durften sie auch noch riesige Fahnen schwenken und Feuerwerk machen. Kurzum: Die Fußballzeit ist und bleibt eine Zeit des Sich-Auslebens und des Überschwangs der Triebe, oder wie es einmal der Journalist Horst Vetten ausdrückte: „Im Fußballstadion pupt die Volksseele, hier darf sie.“

      Auch wenn sie dies heute zum Teil – in England seit der Saison 1994/95 gänzlich – im Sitzen tun müssen, stehen die Fans mit einer Unbedingtheit hinter ihrer Mannschaft, die keine Aufforderung von den Spielern benötigt. Noch ist es den Fans in der Bundesliga erlaubt, sich auf den Stehblöcken dicht aneinander zu drängen und, begünstigt durch die Nähe untereinander, auch körperlich zu einer Masse mit einer einzigen Emotion zusammenzuwachsen. Sie wollen dem Geschehen auf dem Rasen nicht nur zusehen, sondern durch ihre Art der Anwesenheit unmittelbar an ihm teilnehmen. Im Bestreben, ihre Mannschaft stimmgewaltig zum Sieg zu treiben, verstärken sie deren Kräfte. Ihr Anfeuern ist keineswegs umsonst: Mannschaften im eigenen Revier, wo sie von ihren Fans unterstützt werden, spielen meist wesentlich erfolgreicher als auswärts. Oft gelingt es den Fans, mit ihrem Enthusiasmus die Spieler auf dem Feld anzustecken. Sie schauen also nicht nur zu, sondern kommunizieren mit ihren Helden.

      Vor allem die Fans sorgen dafür, dass am außergewöhnlichen Ort das sonst Verbotene, das zugleich so reizvoll ist, überhaupt möglich wird: massenhafter Fan-atismus. Durch die Leidenschaft, mit der sie ihre Mannschaft antreiben, auf dem Rasen das Spiel zu diktieren, fällt ihnen im Zuschauerrund eine Führungsrolle zu. Ihre Rituale wirken als emotionale Impulse auf die übrigen Zuschauer. Sie stimulieren den Rest des Stadions zum „richtigen“ Mitgehen. Erst wenn die Fans die Stimmung anheizen, brüllen auch die Zuschauer auf den Sitzen mit. Erst wenn die Fans eine „La-Ola-Welle“ inszenieren, heben auch die anderen ihren Hintern.

      Durch die Aktivität der Fans werden müde Beine oft erst munter, der durchschnittliche Zuschauer hingegen erhebt sich in der Regel erst dann, wenn ihn das Spiel vom Sitz reißt. Zumindest ansatzweise verwandeln sich im Stadion jedoch nicht nur die Aktivisten auf den Stehrängen, sondern alle Zuschauer in „Fußballmenschen“. Niemand kommt hierher, um nur wie im Theater ruhig zuzusehen. Selbst der schweigsamste Einzelgänger auf dem ruhigsten Sitzplatz kann sich der Atmosphäre kaum entziehen. Im Gegensatz zum Theater, wo die Zuschauer der Bühne gegenübersitzen, bilden sie im Stadion einen engen, abgegrenzten Kreis um den riesigen Tisch des Fußballfeldes. Während alle sehen können, was unten auf dem Spielfeld vor sich geht, sitzen sie einander gegenüber und bannen sich so als Menge selbst. Erst diese Einkesselung bewirkt, dass sich die Gefühle gleichsam wie von selbst hochschaukeln. Jeder bemerkt die Erregung der anderen, die er gleichzeitig, weil die einzelnen Gesichter „verschwimmen“, nur als Masse wahrnehmen kann. Diese Unmöglichkeit, andere als Individuen wahrzunehmen, wirkt wie ein Sog. Nach und nach gehen alle mehr und mehr aus sich heraus, werden in die allgemeine Erregung hineingezogen, bis das „Ich“ mit all den anderen verschmolzen ist zu einem homogenen Etwas „mit eigenem Körper“. Und in den besten, den dramatischsten Momenten eines packenden Spiels ist es manchmal so, als ob die Zeit stehen bliebe.

      Trotz aller Unterschiede und Trennungen kommt es im Stadion zu einer Vereinigung. Alle gehen mit, alle sind voll dabei und erleben gleichzeitig das Gleiche. Dieses von der Konzentration aller Energien auf ein Ziel geprägte Erleben, das verbunden ist mit einem Verlust der Selbstkontrolle und einer innerlichen Vereinigung mit der Umgebung, firmiert im psychologischen Newspeak unter der Bezeichnung „Flow“. Wenn die Aufmerksamkeit auf ein beschränktes Feld von Reizen konzentriert ist, wenn die Ziele eindeutig sind und die Rückmeldung unmittelbar erfolgt, wenn Körper, Handlung und Bewusstsein miteinander verschmelzen, dann ist ein Zustand des „reinen“ Erlebens erreicht, ein Zustand, bei dem man „im Tun aufgeht“. Obwohl die Theorie des Flow eher für die sportlich sich bewegenden Fußballer selbst erdacht ist – man denke an die Mannschaft, die sich „in einen Rausch“ spielt –, wäre es äußerst ungerecht, wollte man den Fans im Stadion dieses Gefühl des Fließens nur im Zusammenhang mit alkoholhaltigen Flüssigkeiten zugestehen.

      Der „Feind“ ist Anlass für die Gefühlsvereinigung im Stadion. Und zugleich verhindert seine Anwesenheit, dass die anwesende Menschenansammlung gänzlich rund und kompakt wird. Es handelt sich, so Elias Canetti in seinem berühmten Werk „Masse und Macht“, um eine in einem Ring angeordnete „Doppelmasse“. Zwar ist die Auflösung der individuellen Atome in der Wärme gemeinsamer Emotion ausgelöst durch die Identifikation mit der Mannschaft, die auf ihrem eigenen Territorium antritt. Weil da aber auch noch eine andere Mannschaft auf dem Platz ist, verlängert sich der Kampf auf dem Rasen auf die Ränge, wo sich der kleine „Gästeblock“ wie ein militärischer Brückenkopf in die Menge hineingedrängt hat und sich mit den heimischen Fans harte Gefechte um die Beherrschung des Schallraums liefert. Wie in einem Echo wird der Lärm der einen von den anderen verlängert und umgekehrt, und im Wettstreit der Sprechchöre kann sich die Temperatur der Emotionen derart erhitzen, dass Außenstehende manchmal wirklich den Eindruck haben können, dieser explosive Sud könnte jeden Augenblick über die Ränder der Schüssel schwappen.

      Wie sich die Stimmung entwickelt und wie sie sich entlädt, hängt freilich davon ab, welche Zutaten vor und während des Spiels beigemengt wurden. Sind die Fans der Klubs verfeindet, ist „Nieder mit den Schweinen“ angesagt, sind sie miteinander befreundet, dann kann es auch heißen: „Scheißegal, wer gewinnt. Hauptsache, die Stimmung ist gut.“ Auch während des Spiels ist grundsätzlich eine Entwicklung der einmal entfachten Begeisterung nach zwei Seiten hin offen: Zur Atmosphäre des fröhlichen Festes, die sich in einem vollen Stadion in einer „La-Ola-Welle“ zeigt, die das Rund wie selbstverständlich mehrmals durchläuft; oder zu der des „Ersatzkrieges“, in der sich die Feindseligkeit wie eine dunkle Wolke drohend über dem Geschehen zusammenbraut. Grundsätzlich gilt freilich: Jeder, der ins Stadion geht, will teilhaben an der Emotion der Masse, und die besteht eben in der Hauptsache aus denen, die im Stadion „zu Hause“ sind.

      Natürlich sind nicht alle Stadien gleich. Nicht nur volle oder leere Ränge unterscheiden sie, sondern auch die Spielbeteiligung des Publikums, das sich in ihnen versammelt. In diesem Sinne sind die Spielorte Ausdruck nationaler Charaktere – Sambaklänge und leidenschaftliche Begeisterung in Brasilien, inbrünstige Gesänge in England –, aber vor allem auch des Selbstverständnisses und des „Charakters“ der Anhänger eines bestimmten Klubs. Das Publikum kann lasch oder ausgelassen, besonders fair oder besonders feindselig sein. Manche Stadien sind dafür berühmt geworden, dass in ihnen die „Gäste“ von den Emotionen der Zuschauer schier erdrückt werden. Diese Atmosphäre der Einkesselung schuf Mythen wie den „Roar“ von Wembley (London) oder Hampden Park (Glasgow): Während im Londoner „Gästehaus“ der englischen Nationalmannschaft

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