Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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Da Rugby und Football um so viel komplizierter und anspruchsvoller sind als Fußball, werden sie auch von vergleichsweise wenigen Menschen aktiv ausgeübt. Völlig erfolglos sind sie deswegen freilich noch nicht. Gerade die Gefahr, die Unmittelbarkeit der kämpferischen Auseinandersetzung, macht wohl viel von dem „Thrill“ aus, der sie unter den besonderen Bedingungen der angloamerikanischen Länder zu vielbeachteten Zuschauersportarten hat werden lassen. Die Komplexität der Regeln eines Sports schließt demnach einen Erfolg beim Sportpublikum nicht aus, begrenzt ihn aber offensichtlich in der geografischen und sozialen Wirkungsbreite. Der geradezu grenzenlose Erfolg des Stadion- und insbesondere des Fernsehfußballs hängt also vermutlich davon ab, dass die Zuschauer jedes Spiel, das sie sehen, „im Prinzip“ auch selbst spielen können. So groß die Kluft zwischen Anfängern, Durchschnittsspielern und Könnern auch sein mag – die Distanz bleibt immer so gering, dass jeder noch so unbegabte Hobbyspieler unmittelbar nachvollziehen kann, was die Stars auf dem Rasen im Stadion zelebrieren. So groß der Unterschied zwischen Profi und Freizeitkicker hinsichtlich Athletik, Kondition, taktischer Disziplin, Schusskraft und technischer Perfektion auch sein mag – die besonderen „Gesetze“ des Fußballs sorgen dafür, dass beide immer einander nahe bleiben. Sogar den berühmtesten Spielern unterlaufen zuweilen anfängerhafte Fehler, während andererseits selbst der ungeschicktesten Altherrenmannschaft hin und wieder ein nahezu perfekter Spielzug gelingt. Deshalb dürfen die „Experten“ im Stadion oftmals nicht ganz zu Unrecht bemerken, dass sie vieles von dem, was da passiert „auch noch gekonnt hätten“.
Es scheint also durchaus berechtigt, wenn alle Kenner des Fußballs den Erfolg des Spiels damit begründen, dass es in jeder Hinsicht extrem „einfach“ sei – einfach zu verstehen, einfach zu spielen, einfach nachzuvollziehen. „Das ‚Geheimnis‘ um den Fußballsport“, so beispielsweise der DFB-Historiker Carl Koppehel, „ist leicht gelüftet. Fußball ist ein im Grunde sehr einfaches Spiel und in der Ausübung billig. Es ist leicht verständlich, die Spielregeln sind frei von erschwerenden Vorschriften, die Wertung ist unkompliziert.“ Wäre diese Feststellung ausreichend, wäre der Fußball also tatsächlich nur „herrlich einfach“ und schon allein deshalb „einfach herrlich“, dann könnte man sich jede weitere Ausführung sparen und diese Abhandlung sofort beenden – das Massenphänomen Fußball wäre erklärt. Bereits eine kurze Überlegung zeigt freilich, dass der schlichte Hinweis auf die Simplizität des Spiels viel zu simpel ist. Läge in der Einfachheit das einzige „Geheimnis“ des Fußballs, müsste man im Umkehrschluss folgern, dass sämtliche anderen Sportarten allein deswegen weniger Erfolg hatten und haben, weil sie komplizierter bzw. voraussetzungsvoller sind als der Fußball. Das mag im Fall von Football und Rugby richtig sein, auf viele andere – ja sogar die meisten – Ballsportarten trifft es aber nicht zu.
Nichts berechtigt beispielsweise zu der Annahme, dass das Handballspiel (sofern es im Freien gespielt wird) „im Prinzip“ mehr Voraussetzungen benötigt als das Fußballspiel; um Basketball zu spielen, braucht man zwar ein paar Voraussetzungen mehr (der Ball muss extrem sprungkräftig und der Boden muss hart sein), trotzdem kam diese Sportart anfangs mit nur 13 Regeln aus; auch beim Volleyball genügt ein leichter Ball und eine zwischen zwei Stangen gespannte Schnur, um mit dem Spiel beginnen zu können. Das Argument der Einfachheit kann also allenfalls erklären, dass sich der Fußball so schnell und so leicht verbreiten konnte, nicht aber, dass ausgerechnet er und er allein zu einem Massenphänomen wurde. Wer das Geheimnis des Fußballs lüften will, muss also schon etwas größere Begründungs-Anstrengungen auf sich nehmen. Sein Erfolg beruht allem Anschein nach auf Eigenschaften, die nicht so einfach zu erklären sind. Das Spiel muss irgendetwas an sich haben, was es „unvergleichlich“ macht – sonst wäre der Reiz, den es auf Millionen, ja Milliarden von Menschen ausübt, nicht zu erklären.
Während andere Spiele offensichtlich nur komplex oder nur einfach sind und nur für Zuschauer oder nur für aktive Spieler Reize besitzen, scheint beim Fußball ein schlichter Anlass so komplexe Wirkungen nach sich zu ziehen, dass das Spiel vielfältigsten Ansprüchen zu genügen vermag. Um dem Phänomen Fußball auf die Spur zu kommen, genügt es also nicht, nur die Regeln zu kennen. Man muss den Kern des Spiels in den Blick nehmen.
Zunächst und vor allem ist es der scheinbar primitive Vorgang des Tretens, der eine überraschende Vielfalt der Spielmöglichkeiten entfaltet. Der Fußball und seine Varianten wie Futsal sind die einzigen Spiele, bei denen das Bewegen des Balles mit dem Fuß zur Regel gemacht wird. Selbst diejenigen Spiele, die „Football“ genannt werden (American Football, Rugby Football), sind ja im Grunde genommen eher Handballspiele, denn auch bei ihnen basiert der Ablauf des Spiels auf dem Tragen, Werfen und Fangen des Balles. Es scheint von daher nicht nur ein bloßer Zufall zu sein, dass all die Ballspiele, bei denen der Ball mit der Hand oder durch deren Verlängerung – mit einem Schläger – in Bewegung gesetzt wird, einen weitaus geringeren bzw. nur regional bedeutsamen Erfolg haben. Wäre dieser einzigartige „Fuß-Fall“ der Ballspiele nur eine Angelegenheit weniger Sonderlinge, die tun, was sonst verboten ist, und die Nein sagen zu allem, was normalerweise erlaubt ist, so wäre das Ganze wohl kaum einer Erwähnung wert. Tatsache aber ist, dass der Fußball den anderen Ballspielen nicht nur den Ball, sondern ganz offensichtlich auch die Gesetze des Erfolgs aus der Hand genommen hat. Und da international nicht irgendein Fußball erfolgreich ist, sondern der nach den FIFA-Regeln betriebene, liegt die Vermutung auf der Hand, dass dieser auf Regeln fußt, die – um das Wortspiel zu Ende zu bringen – „Hand und Fuß“ haben.
Verzichtet man darauf, ein Spiel unter den genormten Bedingungen eines offiziellen Wettkampfs auszutragen, so braucht man nicht einmal die FIFA-Regeln zu kennen. Ein Fußballspiel kommt bereits zustande, wenn man lediglich die zwei Grundverbote beachtet: das Verbot des Handspiels (mit Ausnahme des Torwarts) und das Verbot des Foulspiels (getreten werden darf nur der Ball, nicht der Gegner). Wird nur zum Spaß gespielt, so reduzieren sich die Voraussetzungen des Fußballspiels nahezu auf null. An materiellen Bedingungen sind lediglich zwei Mannschaften, ein Spielplatz mit zwei Toren sowie ein Ball erforderlich. Die Anzahl der Spieler ist gleichgültig, man kann auch fünf gegen fünf spielen oder zwölf gegen zwölf, sogar ein Spiel eins gegen eins ist möglich oder eines mit ungerader Teilnehmerzahl, wenn es unterschiedliche Spielerqualitäten auszugleichen gilt. Ein richtiges Spielfeld ist nicht unbedingt nötig, es genügt schon eine holprige Rasenfläche, notfalls auch ein Stück freien Platzes im Hinterhof oder auf einer wenig befahrenen Straße, und wenn der Raum gar zu knapp ist, kann man sogar auf dem Dach kicken – wie in La Valetta (Malta) oder auf Hochhäusern im dicht besiedelten Japan. Als „Ball“ kann zur Not auch eine Blechbüchse oder irgendein anderer unförmiger Gegenstand dienen, sofern sich dieser nur mit den Füßen kicken lässt. Zur Markierung der Tore genügen Schultaschen, ein paar Zweige oder Steine. Das Spiel kostet also so gut wie nichts und kann praktisch unter allen Bedingungen gespielt werden.
Diese materielle Voraussetzungslosigkeit des Fußballs wird noch dadurch ergänzt, dass nicht einmal die Akteure selbst eine besondere physische Konstitution mitbringen müssen. Egal, wie groß, wie stark, wie alt oder wie sportlich jemand ist: Jeder kann prinzipiell mitspielen. Selbst der Verlust eines Arms muss nicht verhindern, im Fußball ein Großer zu werden. Der einarmige Hector Castro, Torschütze beim 4:2 Uruguays im Finale 1930 gegen Argentinien, war einer der besten Stürmer seiner Zeit. Und der bei einem Autounfall versehrte Robert Schlienz, die „einarmige Legende“ des VfB Stuttgart, brachte es zum Deutschen Meister und Nationalspieler. Umgekehrt muss man beim Fußballspiel selbst kaum befürchten, schwerwiegend verletzt zu werden. Denn wird dieser Sport der Grundregel gemäß betrieben, dann wird nur der Ball, nicht aber der Gegner getreten, dann gelten Angriffe nicht dem Körper, sondern werden mit dem Ball am Fuß vorgetragen. Deswegen müssen auch die Eltern keine Angst haben um die Kinder, die draußen auf dem Bolzplatz einem Ball hinterherjagen und dabei die großen Stars des Spiels imitieren.
Einer alten Legende zufolge besteht zwischen den Bolzereien