Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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Ist das durch Arbeit zu besorgende Dasein durch die Notwendigkeit des Greifens und Be-greifens der Dinge gekennzeichnet, so können sich erst im Spiel die Möglichkeiten einer freien Begegnung und Bewegung mit den Dingen entfalten, die nicht von Zwecken diktiert ist. Im Fußballspiel, das sich wie kein anderes gegen alle Begriffe und Berechnungen sträubt, kommt daher das Spiel in seiner reinsten Weise zum Ausdruck; hier ist, wie alle wissen, „alles möglich“. Fußball wird damit sogar zu einer Metapher für das menschliche Leben schlechthin. Man kann, um das zu verstehen, Heidegger lesen – „Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein“ – oder aber, was mental weniger anstrengend ist, einfach mal ein Fußballspiel anschauen. Für diese Lösung entschied sich gegen Ende seines Lebens auch Heidegger selbst, als er immer häufiger bei seinem Nachbarn auftauchte, um sich dort die Fußballübertragungen im Fernsehen anzuschauen. Des philosophischen Brütens über mögliches Dasein in seiner Seinshütte offensichtlich etwas müde geworden, erregte er sich lieber, dabei auch schon mal eine Tasse umwerfend, über das Da-Sein von Möglichkeiten, die stümperhaft vergeben wurden.
Damit das Erkennen des „Stümperhaften“ überhaupt möglich wurde, musste sich allerdings erst einmal eine Vorstellung von der fußballerischen Könnerschaft entwickeln. Im Fußball geht es im Prinzip nur darum, im richtigen Moment in geeigneter Weise mit dem Fuß vor den Ball zu treten. Das klingt zwar einfach, ist es aber keineswegs. Bis man diese „geeigneten Weisen“ gefunden und erprobt hatte, waren jahrzehntelange „Tests“ nötig. Da in der Frühzeit des Fußballs der Stoß mit der Fußspitze als die einfachste und natürlichste Technik des Spiels galt, kickte man in schweren Schuhen, die vorne mit harten Kappen verstärkt waren. Die Kritik des Spitzenstoßes setzte erst ein, als man allmählich erkannte, dass die Anatomie des Fußes vielfältigere und zuverlässigere Schusstechniken ermöglicht. Im Jahr 1898 bemerkte beispielsweise der deutsche Fußballpionier Philipp Heineken in seinen Anweisungen zum kunstgerechten Torschuss, dass sich bei weiterer Entfernung „ein kräftiger starker Stoß mit den Zehen“ empfehle, schränkte aber gleichzeitig ein: „Im großen Ganzen empfehlen wir aber das Stoßen mit den Zehen wegen seiner Unsicherheit nicht, das Beste ist und bleibt ein Stoß mit der Innenseite des Fußes.“ Wie sehr Heineken damals mit dieser Empfehlung seiner Zeit voraus war, erweist ein Blick in das im Jahre 1900 von Gustav Schnell herausgegebene „Handbuch der Ballspiele“. Im selben Jahr, als sich in Leipzig der deutsche Fußballbund konstituierte, schienen dem Verfasser nur „kräftige Schnürstiefel“ für den Fußball geeignet, die „vorn nicht modisch spitz, sondern, damit der Ball beim Stoßen um so sicherer zu treffen ist, breit sein müssen“.
In Afrika, Asien und Südamerika machen junge Kicker, aus Mangel geboren, bis heute ohne Schuhwerk ihre ersten Kick-Erfahrungen. Der brasilianische Jungstar Robinho eignete sich seine brillante Ballbehandlung in den Straßen der Stadt Sao Vicente an: „Wir spielten immer barfuß, erzählte er der Zeitschrift „FIFA-Magazine“, „manchmal mit einer Zitrone, manchmal gar mit Steinen.“ Ersten Anschauungsunterricht, dass man auch ohne schweres Fußgerät kicken kann, erteilte der Brasilianer Leonidas den grobbeschuhten Europäern während der WM 1938. Als während der zweiten Halbzeit im Spiel gegen Polen der Regen herniederprasselte, zog er einfach die Fußballschuhe aus, um von den durch die Nässe schwer gewordenen Ledergewichten nicht behindert zu werden. Ein FIFA-Beauftragter nötigte ihn schnellstens dazu, sie wieder anzuziehen, so dass das Experiment folgenlos blieb. Folgenlos blieben auch die Tourneen einiger nigerianischer Barfuß-Spieler im England der 1940er Jahre. Und die Inder verzichteten freiwillig-unfreiwillig auf die Teilnahme an der WM 1950, als sie hörten, dass das Tragen von Fußballschuhen Pflicht sei. Solche klobigen Dinger wollten sich die lediglich mit Bandagen ausgestatteten Ballstreichler aus dem Land der Fakire nicht antun.
Es war aber dann dennoch ein Kulturaustausch, der die Europäer vom grobschlächtigen Kappenschuh abkommen ließ. Ende der 1940er Jahren staunte der spätere Meistertrainer Max Merkel, damals Verteidiger in Diensten von Rapid Wien, während einer Tournee in Südamerika über die dort verwendeten leichten „Mokassins“, die ersichtlich eine bessere Balltechnik ermöglichten. 1950 beobachtete die englische Fußball-Legende Stanley Matthews bei der Weltmeisterschaft in Rio de Janeiro die Brasilianer, und auch ihm fiel, neben der virtuosen Kunst der Spieler, das Schuhwerk auf. Die Schuhe waren leicht, aus dünnem Leder gefertigt, stromlinienförmig geschnitten und boten, da der Knöchel frei blieb, viel mehr Bewegungsfreiheit als die schweren und klobigen englischen Stiefel. Matthews war begeistert, kaufte ein Exemplar und spielte fortan, nachdem er sein Mitbringsel „verbraucht“ hatte, nur noch in „Mokassins“, die er sich von einem Schuhmacher nach dem brasilianischen Vorbild fertigen ließ.
Matthews’ Schuhe waren im England der 1950er Jahre eine Revolution, allein schon wegen ihres geringen Gewichts. Die ersten gegen Ende des 19. Jahrhunderts konstruierten speziellen Fußballstiefel, die wegen des damals noch üblichen Stoßes mit der „Pike“ an der Spitze durch eine Stahlkappe verstärkt waren, wogen rund 600 Gramm. Nach der Gewichtsreduzierung durch ein im Jahr 1914 herausgebrachtes Modell auf 545 Gramm hatte sich nicht mehr viel getan. Die nächste Revolution auf dem Sportartikel-Markt erfolgte erst 1954 durch Adolf Dassler, als er mit seinem berühmten Schraubstollen-Modell einen entscheidenden Beitrag lieferte zum legendären 3:2-Sieg Deutschlands über Ungarn auf dem glitschigen Geläuf des Berner Wankdorfstadions. Doch nicht nur die Stollen waren entscheidend: Dasslers Schuhe wogen mit 380 Gramm über ein Drittel weniger als die damals in England üblichen „Hotspur“-Schuhe. Adidas wurde bald zur internationalen Top-Marke. 1966 gewannen die Engländer gegen Deutschland in den – nun auch mit elastischen Sohlen ausgerüsteten – Wundertretern aus dem fränkischen Herzogenaurach. Aber auch diese Schuhe waren immer noch ungefähr doppelt so schwer wie die heutigen. Im dritten Jahrtausend wird mit luftigen Schühchen gekickt, die gerade mal noch 150 Gramm – und damit nur noch ein Viertel der Ungetüme von einst – auf die Waage bringen.
Sepp Herberger hat davon geträumt, einmal einen Schuh unter 300 Gramm zu bekommen. Er konnte sich ausrechnen, wie wichtig das Gewicht ist. Denn ist ein Fußballschuh nur um 100 Gramm leichter, so bedeutet dies bei einem Paar schon 200 Gramm. Geht man nur von rund 10.000 Schritten aus, die in 90 Minuten bewältigt werden, so kommt man bereits auf zwei Tonnen, die ein Spieler pro Spiel weniger bewegen muss! Allein schon die Reduzierung des Gewichts führt also zu einer größeren Leichtfüßigkeit. Noch wichtiger ist aber sicherlich die größere Beweglichkeit im Fuß, die ein leichter, wie eine zweite Haut angepasster Schuh gewährt.
Stanley Matthews hatte als Erster erkannt, dass sich nur mit entsprechenden Schuhen die ganzen Möglichkeiten fußballerischer Techniken entfalten lassen. Als leichtere Schuhe allgemein zur Verfügung standen, entwickelten immer mehr Fußballer ein besonderes Verhältnis zu ihrem Schuhwerk. Sie konnten gar nicht bequem und zugleich eng genug sein. Solange die Schuhe noch aus recht grobem Leder gefertigt waren, war es üblich, in die neuen Treter hineinzupinkeln und sie dann feucht einzulaufen, um ihnen eine perfekte Passform zu verleihen. Einer wie Stuttgarts „Buffy“ Ettmayr schwor in den 1970er Jahren sogar auf im wahrsten Sinne des Wortes „eingelaufene“ Schuhe. Er trug seine „Arbeitskleidung“ grundsätzlich zwei Nummern kleiner. „Ich wollte immer ein Kondom an den Füßen haben, sonst hast du ja doch kein Gefühl“, begründete er seine Marotte. Und hatte sich ein Spieler mal an ein Paar gewöhnt, behielt er sie so lange am Fuß, wie es nur ging. Als Bobby Breuer zum Puma-Verein Bayern Hof wechselte, wollte er weiterhin in den gewohnten Adidas-Schuhen kicken. Betreuer Andres Högen musste die Streifen abmachen und das Puma-Logo aufnähen. Irgendwann probierte er die Raubtier-Schlappen aus Känguru-Leder dann doch einmal aus, und da waren sie ihm so angenehm, dass er sie 1972 bei seinem Wechsel nach Innsbruck unbedingt mitnehmen wollte. In Puma-Schuhen spielte