Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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Ein Matthews und ein Garrincha hätten im heutigen Tempo-Fußball trotz aller Wendigkeit wohl kaum eine Chance mehr. Heute muss alles viel schneller passieren, und so haben einige Spieler – der Nordire Ryan Giggs etwa, der Niederländer Arjen Robben oder der Portugiese Cristiano Ronaldo – Sprint und Dribbling zum „Tempodribbling“ kombiniert. In seiner geradezu aristokratischen Eleganz bis heute unerreicht ist freilich Franz Beckenbauer. Hans Blickensdörfer bewunderte die „Harmonie der sparsamen Bewegung“ in seinen Dribblings: „Ihm genügte schon die Andeutung einer Körperfinte, um den Gegner leer laufen zu lassen, und es ist eines seiner Geheimnisse gewesen, schon mit der nächsten aufzuwarten, ehe sich der Gegner wieder gefangen hatte.“ Die Beckenbauer oft bescheinigte „Arroganz“ beruhte vor allem auf dieser Fähigkeit, mit nur hingehauchten Bewegungen scheinbar mühelos alle Gegner abzuschütteln. Der fußballkundige Philosoph Heidegger, ein Fan des „genialen Spielers“ Beckenbauer, prägte für diese beispiellose Kombination von gefühlvoller Ballbehandlung und Körperbeherrschung den Begriff der „Unverwundbarkeit“ im Zweikampf.
Während man das „körperlose“ Spiel mit dem Ball allenthalben rühmt, wird der „körperlose“ Angriff auf den Ball nur äußerst selten einmal gewürdigt. Im Gegenteil: Seit 1993 die „Grätsche von hinten“ verboten ist, geriet jedes Tackling derart in den Ruf der Brutalität, dass auf den Fußballplätzen die Kunst des feinen „Gleitangriffs“ („sliding tackling“) kaum mehr zu sehen ist. Fest steht aber, dass auch die geschickte und das Bein des Gegners schonende Eroberung des Balles zur hohen Schule des Spiels zählt. Gemeint ist hier nicht die in Werner Liebrich – Stopper bei der WM 1954 – Gestalt gewordene rohe „Herberger-Grätsche“, sondern die Fähigkeit, dem Gegner den Ball „vom Fuß zu spitzeln“, ohne dabei ein Foul zu begehen. Einer wie der enorm faire Per Mertesacker löst heute das, was früher vor allem von den Engländern mit rassigen Gleitangriffen bewältigt wurde, mit einem überragenden Stellungsspiel. An seinem Beispiel lässt sich festmachen, dass die Antizipation des Geschehens – und damit das Erwarten des Gegners an dem Ort, wo er im nächsten Moment sein wird – das gut getimte Hineinrutschen weitgehend überflüssig machen kann.
Erfahrenen Trainern war schon immer klar: Das Gewinnen von Zweikämpfen im Fußball ist äußerst wichtig. „Denn der gewonnene Zweikampf“, so der Fußball-Nestor Hennes Weisweiler, „entscheidet über Ballbesitz, und nur mit dem Ball erreichen wir das gegnerische Tor.“ Konnte man früher allerdings nur vermuten, dass der Ausgang bestimmter Zweikämpfe über Sieg und Niederlage entscheidet – beispielsweise gilt für den Titelgewinn der deutschen Mannschaft bei der WM 1974 als ausschlaggebend, dass der Manndecker Vogts in der Auseinandersetzung mit dem holländischen Spielmacher Cruyff die Oberhand behielt –, so weiß man spätestens seit einigen nach der WM 1990 angestellten Analysen Genaueres: Nicht bestimmte Zweikämpfe, auch nicht die Härte der Zweikämpfe, sondern in der Anzahl der fair gewonnenen Zweikämpfe liegt der Schlüssel zum fußballerischen Erfolg.
Besonders signifikant ist die Analyse zweier Länderspiele zwischen der BRD und Holland. Bei der EM 1988 kassierten die Holländer in der 53. Minute das 0:1. In der Folgezeit waren sie ständig in der Offensive, begingen 30 Minuten lang kein Foul, gewannen zwei Drittel aller Zweikämpfe und schließlich auch das Spiel mit 2:1. Einen ganz anderen Verlauf nahm das Achtelfinalspiel bei der WM 1990 in Italien. Zwar ging die Beckenbauer-Equipe auch hier kurz nach der Halbzeit in Führung (50. Minute), anschließend aber waren die Holländer nicht mehr in der Lage, die Partie mit fairen Mitteln umzubiegen. Sie begingen bis Spielende zwölf Fouls, die fair spielenden Deutschen aber gewannen diesmal mehr als zwei Drittel aller Zweikämpfe, wobei sich der herausragende Klinsmann besonders hervortat. Die Holländer verloren das Spiel, die Deutschen wurden Weltmeister.
Dass die Ergebnisse in diesen Spielen keineswegs zufällig waren, lässt sich eindrucksvoll bestätigen. 1990 hatten die Deutschen in sämtlichen Spielen in der Regel fair gespielt und sich als die mit Abstand zweikampfstärkste Mannschaft erwiesen, wobei sich Guido („Diego“) Buchwald, der fast 70 Prozent seiner Zweikämpfe gewinnen konnte, besonders hervorgetan hatte. Diese Buchwald-Quote erreichte bei der WM 1994 in den USA die gesamte Defensivabteilung der Brasilianer. Folglich wurde Brasilien Weltmeister, und die Deutschen, die mit weniger als 60 Prozent gewonnener Abwehr-Zweikämpfe in dieser Sparte den drittletzten Platz besetzten, schieden im Viertelfinale gegen Bulgarien aus. In der Regel ist beim Fußball weder mit „laschem“ noch mit übertriebenem und brutalem Zweikampfverhalten ein Blumentopf zu gewinnen. Von Fußballspielern, die Erfolg haben wollen, wird ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Aggressionskontrolle verlangt, und dies ist wohl – nebenbei bemerkt – auch mit ein Grund dafür, dass er, beispielsweise im Vergleich zum American Football, eine relativ ungefährliche Sportart ist.
Weil die Fähigkeit, den Ball anzugreifen oder zu verteidigen, und nicht die Körperkraft entscheidend ist, können im Zweikampf auch Spieler bestehen, die alles andere als Hünen sind (Beispiel Berti Vogts). Weil der Ball und nicht der Körper im Fußball die Hauptrolle spielt, müssen Fußballer grundsätzlich keine besonderen körperlichen Voraussetzungen mitbringen, um sich in diesem Spiel durchsetzen zu können. Große und Kleine, Schwere und Leichte, Kräftige und Schwächliche, Schnelle und eher Langsame – beim Fußball haben alle eine Chance, sich durchzusetzen. Nicht so beim Football und beim Rugby. Hier werden die körperlich Untauglichen vom Spiel ausgeschlossen, und der Rest wird nach den Merkmalen seiner Körperstatur sortiert. Die Bedeutung der Körperstatur für die Funktion eines Spielers innerhalb der Mannschaft lässt sich besonders gut beim Rugby ablesen, weil hier – anders als beim Football – auf eine „Panzerung“ der Spieler verzichtet wird: Die Pfeiler, die für die Eroberung hart umkämpfter Bälle zuständig sind, sind kräftig und untersetzt; die Flügelstürmer, die den Ball im Sprint nach vorne tragen sollen, sind besonders athletisch; die Zweite-Reihe-Stürmer, die ein Gedränge von hinten stabilisieren müssen, sind außerordentlich groß und schwer; der Gedrängehalb dagegen, der die Rolle eines Spielmachers und beweglichen Ballverteilers auszufüllen hat, ist meist auffallend klein und schmächtig.
Sicherlich gilt auch für den Fußball, dass bestimmte körperliche Merkmale im Spiel Vorteile bringen. So ist ein riesenhafter Mittelstürmer gegenüber einem zwergenhaften Abwehrspieler beim Kopfball sicher immer begünstigt. Dies schließt aber nicht aus, dass ein relativ kleiner Spieler wie Karl-Heinz Riedle aufgrund seiner enormen Sprungkraft zum weltweit gefährlichsten Kopfballspieler werden konnte. Die körperlichen Anforderungen, die an einen Fußballspieler gestellt werden, lassen sich also nicht so ohne weiteres in Zentimetern und Gramm ausdrücken. Fußballspieler sind im Durchschnitt wesentlich kleiner und leichter als Rugby- und Footballspieler. Mächtige Erscheinungen wie der Tscheche Jan Koller (2,02 Meter, 103 Kilogramm) sind auf Fußballplätzen eine große Ausnahme, die meisten Offensivkräfte von Klasseniveau sind eher schmächtig und klein.
Robinho, der dem großen Pelé nacheifernde brasilianische Wunderknabe, bringt es bei 1,72 Meter gerade mal auf 60 Kilogramm. Der Durchschnittskicker „Peter Müller“, den der „Kicker“ zum 40. Geburtstag der Bundesliga aus seiner Datenbank ermittelte, ist 1,81 Meter groß und wiegt 77 Kilogramm. Auch Sekunden- und Ausdauerwerte sind nicht unbedingt ausschlaggebend. Zwar gibt es Sprinter, die 100 Meter unter elf Sekunden zurücklegen und Spitzengeschwindigkeiten von 34 km/h erreichen, doch meistens sind solche Leichtathleten schlechte Techniker – von Ausnahmen wie dem Russen Oleg Blochin und dem Brasilianer Roberto Carlos einmal abgesehen. Und selbst wenn im modernen Spiel immer mehr gelaufen werden muss und das Messen der Laktatwerte zum Trainingsalltag gehört, sind dem Bestreben, nur mit überlegener Fitness den Erfolg zu suchen, natürliche Grenzen gesetzt. Da heute alle Topspieler gleichermaßen fit sind, hat der Satz des Altbundestrainers