Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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Erst im Zusammenspiel kann jene Perfektion zustande kommen, die sich auch in Toren auszahlt. Besonders gut funktionierende Sturmreihen wie die – damals noch aus fünf Spielern bestehende – von River Plate Buenos Aires in den 1940er und die von Real Madrid in den 1950er Jahren haben denn auch kollektive Ehrennamen erhalten: Die „River Macquina“ lief geschmiert wie eine Maschine, und das „Weiße Ballett“ der Madrilenen vollzog sich so formschön, als folgte es einer strengen Choreographie. Ähnliche Metaphern fanden Sportjournalisten auch für Abwehrreihen. Willy Meisl schrieb zur brasilianischen WM-Elf von 1958: „Vor dem durchgekommenen Spieler baut sich immer wieder einer der wieselflinken Brasilianer auf. Immer hat man den Eindruck, dass ein gut geöltes, aus genau ineinander gepassten Teilen bestehendes Gitter sich einschaltet, dass irgendwo unsichtbare Knöpfe gedrückt werden, die dieses robotmäßig effektive, aber völlig individualisierte Verteidigungssystem funktionieren lassen.“ Ähnliches ließe sich in der Gegenwart von den „Gummimauern“ italienischer und argentinischer Abwehrreihen sagen. Aber auch über jene Brasilianer, die im Confed-Cup-Finale 2005 eben jene scheinbar so perfekten Argentinier mit 4:1 vom Platz fegten. Wie eine Flipperkugel schoss der Ball zwischen den Robinho, Adriano, Kaká und Ronaldinho hin und her, alles vollzog sich so schnell, dass man kaum noch folgen konnte, und alles geschah derart leichtfüßig, locker und so sicher, als würde da ein Computer-Programm abgespielt. Mochte man da noch einen Einzelnen herausheben? Allenfalls konnte man feststellen, dass man Ronaldo nicht vermisste. Vermutlich hätte er in diesem perfekten Kollektiv auch nur gestört und Sand ins Getriebe gebracht.
Ronaldo gilt als einer von der aussterbenden Spezies jener anarchistischen Spieler, die sich der disziplinierten Arbeit im System verweigern. Noch während der WM 2002 konnte er als i-Tüpfelchen in einer hervorragenden Mannschaft die spielentscheidenden Überraschungsmomente setzen. Solche Spieler, die sich der Fron im Kollektiv nicht fügen, haben den Trainern früher graue Haare wachsen lassen. Trotzdem hätte sich diese der grauhaarige Jupp Derwall wohl ausreißen können, nachdem er sein Enfant terrible, den „blonden Engel“ Bernd Schuster, nur einmal, beim Gewinn der EM 1980, zur Entfaltung hat kommen lassen. Der hätte seiner drögen Truppe bei den Turnieren von 1982 (WM) und 1984 (EM), wo er nicht dabei war, sicher ein wenig Leben einhauchen können. Denn es steht fest: Obwohl der Grundcharakter des Spiels geprägt ist durch die wechselseitige Abhängigkeit der Mitglieder einer Mannschaft, ist es jederzeit möglich, dass ein herausragender Spieler dem Spiel einer Mannschaft seinen Stempel aufprägt. Weil jede Handlung eines Einzelnen Signal ist für die anderen, kann es einem Einzelnen sogar gelingen, seine Mitspieler mitzureißen und zum Sieg zu führen.
Und nicht nur in diesem psychologischen Sinn kann es vorkommen, dass ein Spieler „allein“ ein Match entscheidet. In jedem Spiel gibt es Augenblicke, in denen ein Spieler „sein Herz in die Hand nimmt“ und erfolgreich etwas „auf eigene Faust“ unternimmt. In ganz seltenen Fällen kann es sogar vorkommen, dass einer den Gegner „im Alleingang“ schlägt. Dem Tschechen Josef Masopust gelang 1962 im Maracana-Stadion gegen die Brasilianer ein Slalomlauf, den er mit dem Treffer zum 1:0-Sieg abschloss. Das „Tor des Jahrhunderts“ aber schoss Diego Maradona. Im Viertelfinale der WM 1986 gegen England hatte der Argentinier bereits ein irreguläres Tor mit der Hand erzielt, dann schritt er zur Wiedergutmachung. Noch in der eigenen Hälfte startete er zu einem Solo, bei dem er nacheinander drei Engländer stehen ließ und anschließend auch noch Torhüter Shilton umspielte. Selbst der englische Trainer Bobby Robson war begeistert: „Ein Wundertor. Ein phantastisches Tor. Es ist herrlich für den Fußball, dass es so einen Spieler gibt.“
Maradona prägte sein Team, wie kaum ein anderer es je vermochte. Natürlich wussten auch die Gegner das. Bei der WM 1982 folgten die Italiener dem schlichten Gedanken: Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir Maradona ausschalten. Und so zermürbte ihn Claudio Gentile mit brutalen Tritten. Bei der WM 1986 versäumten das die Engländer und mussten, siehe oben, die Konsequenzen tragen. Die davon schwer beeindruckten Deutschen wollten es im Finale besser machen und konzentrierten sich darauf, das argentinische Ballgenie auszuschalten. Es war dennoch umsonst. Nach der 2:3-Niederlage Deutschlands schrieb die französische Zeitung „Libération“: „Der Sieg des Maradona-Effektes. Im Endspiel dachten die Deutschen nur an ihn. Und die Argentinier in seinem Schatten, seine fast anonymen Partner, haben dies genützt, um das Spiel ihres Lebens zu spielen.“ So wie manche Genies enttäuschen können, so kann auch der Gedanke verhängnisvoll sein, die Ausschaltung des besten Spielers der gegnerischen Mannschaft allein genüge schon zum Sieg.
Die Beispiele zeigen, dass der Grundwiderspruch zwischen individueller Freiheit und kollektiver Disziplin in jedem Fußballspiel von Neuem zu lösen ist. Im Mannschaftssport Fußball kann ein Team nur dann erfolgreich sein, wenn sich jeder Einzelne kooperativ in das Ganze einfügt. Einerseits. Andererseits kann der Erfolg gerade davon abhängen, dass der Einzelne sich für einen Moment aus diesem Ganzen herauslöst und etwas Unerwartetes tut. Und beides gilt auch für den Misserfolg: Zu starre Disziplin kann zu unflexibel machen, unbedachte Einzelaktionen können dem Gegner Chancen zum Konter eröffnen. Es bleibt eine nicht hintergehbare Fußball-Tatsache: Jedes Mannschaftsmitglied ist einerseits zwar immer von den Gesamtbewegungen des Kollektivs abhängig, andererseits aber bleibt jede Bewegung auf dem Spielfeld durch die Entscheidungen Einzelner bedingt.
Der perfekte – man möchte in diesem Zusammenhang sagen: der „mündige“ – Spieler zeichnet sich möglicherweise dadurch aus, dass er erkennt, wann er gegen die Disziplin des Kollektivs verstoßen darf und wann nicht, dass er strenge Vorgaben nicht stur befolgt, sondern sie je nach situativer Angemessenheit neu auslegt und sogar überschreitet. Als Paradebeispiel dafür könnte der geniale und zugleich äußert mannschaftsdienlich spielende Zinedine Zidane genannt werden. Auch wenn er immer versucht, den Ball besonders elegant zu spielen, will er die anderen nicht in den Schatten stellen. Er zieht nicht pausenlos den Ball an sich, sondern er arbeitet im Getriebe des Teams wie ein feinsinniger Mechaniker, der je nach Situation zündende Ideen und kleine Funken einstreut oder aber unprätentiös einen Kollegen in Szene setzt. In einer funktionierenden Mannschaft wie dem französischen Weltmeister-Team gelingt es, den Widerspruch zwischen den Ansprüchen des Einzelnen und den Erfordernissen des Ganzen aufzuheben.
Wie eine Mannschaft dann tatsächlich in einem Spiel auftritt, hängt natürlich nicht nur von ihren Bestandteilen ab, sondern auch vom Gegner. Es ist ein ziemlich komplexer Sachverhalt, dass jede Mannschaft nur so spielen kann, wie es die andere zulässt, und somit nicht nur Gegner, sondern Mitspieler zugleich ist. Nicht umsonst heißt es von Mannschaften, die sich ausschließlich auf die Verteidigung des eigenen Strafraums beschränken, sie würden „das Spiel kaputt machen“. Ein – zumindest oberflächlich betrachtet – geradezu langweiliges Spiel ergibt sich dann, wenn zwei nahezu perfekt agierende Mannschaften aufeinander treffen. Im WM-Finale 1994 zwischen Brasilien und Italien lief der Ball in jeder Mannschaft wunderbar, allerdings nur bis zum gegnerischen Strafraum. Dort trafen die Angreifer jeweils auf ein fehlerlos agierendes Kollektiv von Verteidigern. Weil man sich gegenseitig schachmatt setzte, blieben Chancen Mangelware, und das Ergebnis, ein 0:0, war daher geradezu programmiert.
Glücklicherweise treffen solche perfekten Kollektive nur selten aufeinander. Selten sind auch Spiele, bei denen eine Mannschaft den Ball so gut kontrolliert, dass der Gegner ihn kaum mehr sieht. Normalerweise macht jede Mannschaft Fehler. Und jeder Fehler kann zu einem Tor und damit zu einem ganz „neuen“ Spiel führen. Ein Rückstand zwingt sogar ein zunächst rein defensiv eingestelltes Team, nun selbst die Aktion in der Offensive zu suchen. Die ganze Dramatik des Fußballs zeigt sich freilich erst in Begegnungen, bei denen beide Kontrahenten den offenen Schlagabtausch suchen und das Spiel zwischen beiden Toren hin- und herwogt. Die spannendsten und schönsten Matches entwickeln sich, wenn beide Mannschaften den Willen zum Sieg haben, wenn sie versuchen, „ihr“ Spiel zu machen, anstatt sich allein darauf zu konzentrieren, das Spiel des Gegners nur zu zerstören. Da sie sich dann wechselseitig zu konstruktiven Aktionen herausfordern, kann man sogar davon sprechen, dass sie zugleich gegeneinander und miteinander spielen.
Den spezifischen Reiz eines gelungenen Fußballspiels – das permanente Hin und Her, den plötzlichen