Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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Das Spielprinzip aber glich sich: Um den Mittelläufer in der Zentrale gruppierten sich die beiden Läufer sowie die beiden Halbstürmer und ließen den Ball zirkulieren; im entscheidenden Moment kam dann von einem dieser fünf Spieler der Steilpass auf die Stürmer.
Auch beim 1. FC Nürnberg, der in den 1920er Jahren den deutschen Fußball mit seinem – manchmal, wie es hieß, zur „Überkombination“ neigenden – Flachpassspiel dominiert hatte, war es ähnlich zugegangen. Interessant ist nun, dass sich die genannten Teams im Spiel aus dem System sozusagen „herausspielen“ konnten. Die Nürnberger bewegten sich bei ihren oft noch recht gemächlich vorgetragenen Ballstafetten im Angriff bereits 1924 intuitiv in einer „W“-Formation. Darin zeigt sich: Die Aufstellung allein sagt noch nicht alles darüber aus, wie ein Team sich dann bewegt. Die Clubspieler hatten aus der Praxis Wege entwickelt, die sie theoretisch eigentlich noch gar nicht hätten kennen sollen. Vorne lauerten die drei Stürmer auf einer Linie; einige Meter dahinter agierten die Halbstürmer; noch einige Meter dahinter rückten die drei Läufer mit dem zentralen Ballverteiler Kalb auf. In der Offensive unterschied sich die Spielweise also gar nicht so sehr von dem, was Chapman später im W-M-System mit Arsenal praktizieren lassen würde.
Als Otto Nerz in den 1930er Jahren das W-M-System in der deutschen Nationalmannschaft einführte, buhte das Publikum dennoch lautstark. Denn jetzt kam das defensive „M“ hinzu, das den Mittelläufer als zurückgezogenen Stopper in die Abwehr verdammte. Niemand wollte es verstehen, wie man den „besten Mann“ zum Manndecker machen konnte. Hans Kalb, ehemaliger Mittelläufer des 1. FC Nürnberg, wetterte gegen die „Dressur“, die das neue System dem Einzelnen abverlange: „Mit ihm richtet man die Individualisten – und jeder herausragende Sportler ist Individualist – wie Polizeihunde ab. Sport muss auch im Verband einer Mannschaft Vergnügen und Lebenslust sein. Mit dem System des Mauerns aber diktiere ich dem Dreh- und Angelpunkt einer Mannschaft: Mauert um jeden Preis, auf dass ihr ja nicht verliert!“
Chapmans Motto war dem Kalb’schen völlig entgegengesetzt: „Wenn es uns gelingt, ein Tor zu verhindern, haben wir einen Punkt gewonnen. Schießen wir aber zudem ein Tor, dann haben wir beide Punkte.“ Chapman ging es, wie bereits geschildert wurde, in erster Linie um die Stärkung der Defensive. Es galt, die durch die neue Abseitsregel von 1925 entstandenen Lücken zu schließen, und zu diesem Zweck wurde der zentrale Aufbauspieler, der Mittelläufer, geopfert. Insofern ist Kalbs Kritik also verständlich; doch konnte man in Deutschland damals noch nicht sehen, welche offensiven Möglichkeiten das neue System bot. Denn anstelle des Mittelläufers gab es jetzt ja zwei Halbstürmer im offensiven Mittelfeld. Während der rechte etwas defensiver agierte, wurde der linke, der mit der späteren Nummer „10“, zum Spielmacher. Diese Rolle nahm im Team Arsenals der 1930er Jahre der herausragende Alex James ein, über den die meisten Angriffe vorgetragen wurden.
Die im W-M-System angelegte und für die weitere Entwicklung des Fußballs entscheidende Neuerung waren aber weder Stopper noch Spielmacher, sondern ganz grundsätzlich die Etablierung des Mittelfeldes als eigener Bestandteil des Systems. Die beiden offensiv ausgerichteten Halbstürmer bildeten zusammen mit den defensiven Läufern ein „magisches Quadrat“. Dadurch eröffneten sich neue Spiel-Räume und ein zuvor nicht gekannter Variantenreichtum in der Spielanlage. In der pyramidalen Dreieck-Aufstellung lief der Spielaufbau immer über nur eine zentrale Figur in der Mitte. Das war durchschaubar, die Möglichkeiten waren begrenzt, außerdem blieben auf dem Platz viele unbespielte – sozusagen „leere“ – Flecken. Mit dem Mittelfeld-Quadrat aber hatte die Idee, das Feld in seiner ganzen Breite und Tiefe auszunutzen, Fuß gefasst. Stück für Stück konnten nun die im Fußball angelegten Kombinationsmöglichkeiten entwickelt werden. Kurz: Weniger die Erfindung des W-M-Systems selbst hatte den Fußball revolutioniert, sondern vielmehr die dadurch bewirkte Entdeckung des Raums. So setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass eine Mannschaft viel mehr erreichen konnte, wenn sich die Spieler nicht mehr auf fest vorgegebenen, sondern auf möglichst variablen Wegen bewegten. Die Aufstellungssituation zu Spielbeginn definierte immer weniger das gesamte Spielprinzip und reduzierte sich mehr und mehr zu einer Orientierungshilfe.
Die Ungarn demonstrierten als Erste, was nun möglich geworden war. Am 25. November 1953 verlor England gegen Ungarn und damit zum ersten Mal gegen eine nicht-britische Mannschaft ein Heimspiel. „Beim 3:6 bleibt vor allem für Mittelläufer Johnston ein Mirakel, wie er gegen den zurückgezogenen Mittelstürmer Hidegkuti spielen soll“, formulieren Christoph Biermann und Ulrich Fuchs: „Ihm ins Mittelfeld folgen und hinter sich Löcher lassen oder Hidegkuti aufspielen lassen?“ Johnston, der seine Deckungsaufgabe nicht erfüllen konnte, war in dem Spiel mehr oder weniger „verschenkt“. Die Engländer waren schon allein durch diese ungewohnte Situation durcheinander. Dazu kam, dass die Ungarn auf die jeweilige Entwicklung der Spielsituation flexibel reagierten. Sie klebten nicht auf ihren Positionen fest, sondern wechselten und rochierten. Wenn Rechtsaußen Budai nach innen zog, gab Rechtsverteidiger Buzanszky den Rechtsaußen. Die beiden spielten also ganz modern, „überlappend“, wie man heute sagt. Umgekehrt ließ sich nicht nur der „hängende“ Mittelstürmer Hidegkuti zurückfallen, sondern auch die Außenstürmer Czibor und Budai halfen immer wieder hinten aus. „Wir haben ständig die Positionen getauscht; wo wir beim Anstoß standen, war völlig irrelevant“, fasste Nandor Hidegkuti zusammen.
Der Erfolg der Ungarn wurde wenig später im Rückspiel gegen die Engländer noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Sie gewannen mit 7:1, und diesmal machten sie statt Johnston einen Mann namens Owen besonders unglücklich. „Ich konnte diese Burschen niemals richtig tackeln“, stellte er resigniert fest. „Wann immer ich sie attackierte, spielten sie den Ball vorher einem besser postierten Nebenmann zu.“
Die Engländer hatten immer noch kein Mittel gefunden gegen diese mit schnellen Positionswechseln ergänzte Variante des Kurzpassspiels. Dabei war die Sache im Prinzip gar nicht so schwer zu verstehen. „Wenn wir ein Geheimnis hatten“, erläuterte Rechtsverteidiger Buzanszky, „dann das, dass wir schon damals im Schnitt um ein- bis zweitausend Meter mehr gelaufen sind bei den Fußballspielen als unsere Rivalen, und wir konnten füreinander kämpfen.“ Und dann kam natürlich auch noch das herausragende balltechnische Vermögen der einzelnen Spieler hinzu.
Das System – oder besser: die Methode – der Ungarn gelangte vermutlich über den ungarischen Trainer Bela Guttmann nach Brasilien, ins Land des künftigen Serien-Weltmeisters. Jedenfalls war der ab 1956 in Sao Paulo tätig; und irgendwoher mussten die Brasilianer ja ihr 1958 praktiziertes 4-2-4-System haben, das die Experten als Weiterentwicklung der ungarischen Variante interpretieren. Aber was heißt 4-2-4-„System“? Entscheidend für den Erfolg war nicht die nominelle Verteilung, sondern die Bewegung im Raum. Sie deckten tief gestaffelt, immer ballorientiert. Und sie verschoben sich je nach Spielsituation wie eine Ziehharmonika: Beim Verteidigen zogen sie sich zusammen, beim Angriff verteilten sie sich blitzartig im Raum. Und nicht zuletzt: Sie waren alle perfekt am Ball.
Die Brasilianer waren auch gut in der Defensive, aber sie verließen sich nicht allein auf die Abwehrarbeit. Andere Teams trafen da eindeutigere Entscheidungen. Eine gezielte Stärkung der Defensive hatten in den 1930er Jahren der Italiener Vittorio Pozzo mit seiner „Metodo“ und der Schweizer Karl Rappan mit seinem „Riegel“ entwickelt. Beide Teams waren mit ihrer Philosophie, zusätzliche Sicherungen in die Abwehr einzubauen, erfolgreich. Italien wurde 1934 und 1938 Weltmeister, die Schweizer kegelten bei der WM 1938 das „großdeutsche“ Team aus dem Wettbewerb.