Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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EXKURS ABSEITSREGEL UND W-M-SYSTEM
Nach der alten Abseitsregel, die bis 1925 galt, mussten sich im Moment des Abspiels drei Gegner zwischen Ball und Tor befinden. Diese Regel hatte lange Zeit zufriedenstellend funktioniert. Man spielte damals mit zwei Verteidigern, drei Mittelfeldspielern und fünf Stürmern. In diesem 2-3-5-System, das sich vom Torwart aus betrachtet wie eine Pyramide darstellte, hatten die Stürmer zwar ein erhebliches Übergewicht, da jedoch drei Spieler bei der Ballabgabe vor dem vordersten Angreifer stehen mussten, konnte relativ mühelos eine Abseitsfalle aufgebaut werden. Der letzte Verteidiger, „Standverteidiger“ genannt, konnte sich weit zurückziehen; der zweite Verteidiger, „Angriffsverteidiger“ genannt, erwartete den Gegner auf Höhe der Mittellinie; kein Angreifer konnte an ihm vorbei den Ball zu einem weiter vorne positionierten Mitspieler passen. Man musste also nur auf die Idee kommen, diese Grundsituation auszunutzen. Dann konnte man das Kombinationsspiel der Angreifer nahezu komplett unterbinden. Als „Mr. Off-Side“ gelangte bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Billy McCraken, der Fullback von Newcastle, zu zweifelhaftem Ruhm. Er habe, so heißt es, Abseitsfallen mit derart stupender Sicherheit organisiert, dass der Rasen des St James Parks mehr Gras vor dem Tor habe als im Anstoßkreis. 40 Abseits-Entscheidungen pro Spiel, so wird geschätzt, seien in dieser Zeit keine Ausnahme gewesen.
Zu Beginn der 1920er Jahre hatte sich in der englischen Liga eine Lähmung des Spiels bemerkbar gemacht, da es immer mehr Mannschaften gelang, eine funktionierende Abseitsfalle anzuwenden. In dieser Situation, da die frustrierten Stürmer Englands gegenüber den Verteidigern kaum mehr eine Chance hatten und das Spiel in Langweile zu erschlaffen drohte, suchte man im Juni 1925 mit einer neuen Vorschrift die Rettung. Der über die Fußball-Gesetze wachende International Football Association Board beschloss eine neue Abseitsregel, nach der sich beim Abspiel nur noch zwei und nicht mehr wie bisher drei Gegner zwischen Ball und Tor befinden mussten. Tatsächlich erhöhten sich nach dieser Änderung schlagartig Tempo und Dramatik des Spiels. Die Torquote steigerte sich von 4.700 Toren in der Vorsaison auf 6.373, und Huddersfield Town, der Meister von 1925, konnte zwar 1926 abermals triumphieren, nur diesmal nicht mit 69:29 sondern mit 92:90 Toren. Auch der sagenhafte Torrekord von Dixie Dean, der in der Saison 1927/28 in 39 Spielen 60 Tore für den FC Everton erzielte, war wohl nur als „Nachwirkung“ dieser Umstellung möglich.
Der Erste, der auf diese Neufassung und die damit verbundene Torinflation reagierte, war Herbert Chapman. Mitte 1925 war der zuvor mit Huddersfield erfolgreiche Trainer zu Arsenal London gewechselt und dort von Abwehrchef Charlie Buchan animiert worden, als Reaktion auf die neue Abseitsregel die Defensive neu zu organisieren. Buchan hatte erkannt, dass die beiden Verteidiger unter der neuen Abseitsregel überfordert waren, und schlug daher seinem Trainer vor, den Mittelläufer Jack Butler als zentralen Stopper in die Abwehr zurückzunehmen. Chapman war zunächst sehr skeptisch, lenkte dann aber ein, als sich Arsenal gegen Newcastle eine deftige 0:7-Abfuhr eingehandelt hatte. Als man das nächste Spiel – nun mit einem zusätzlichen Verteidiger – gegen West Ham mit 4:0 gewann, war damit der Anfang für ein ganz neues Prinzip des Fußballspielens gemacht. Damit daraus das werden konnte, was später als W-M-System in die Geschichte eingehen sollte, musste Chapman allerdings noch eine weitere Änderung vornehmen. Da der Mittelläufer nun im Aufbauspiel fehlte, nahm er zwei seiner fünf Stürmer auf Halbpositionen zurück. Daraus ergab sich in der Grundaufstellung der fünf offensiven Spieler ein W, die fünf defensiven bildeten ein M. Das W-M-System war geboren.
Arsenal hatte die Saison 1924/25 als 20. der Tabelle abgeschlossen. Am Ende der Spielzeit 1925/26 war das neu gruppierte Team, das nur um einen einzigen Spieler verstärkt worden war, Vizemeister. Dennoch dauerte es eine Weile, bis sich die Spieler auch taktisch auf die Systemrevolution eingestellt hatten. Alle hatten jetzt ja neue Aufgaben zu erfüllen: Die beiden Verteidiger waren nach außen gerückt und mussten sich um die Flügelstürmer kümmern; die beiden Läufer hatten nun im Mittelfeld viel mehr Arbeit zu leisten; außerdem musste der zentrale Abwehrspieler lernen, dem gegnerischen Mittelstürmer nicht überallhin zu folgen, sondern, um nicht plötzliche Lücken entstehen zu lassen, seine Position je nach Spielsituation geschickt im Raum zu beziehen. 1927 schien die Sache dann zu funktionieren, denn Arsenal kam bis ins Finale des FA-Cup und scheiterte dort nur knapp. Doch in der Liga belegte das Team, das nach und nach mit Top-Spielern wie David Jack, Eddie Hapgood, Cliff Bastin sowie Alex James verstärkt wurde, noch vier Jahre lang lediglich Mittelfeld-Plätze. 1930 platzte dann endlich der Knoten: Arsenal gewann den FA-Cup. In den folgenden Jahren wurden die „Gunners“ dann das erfolgreichste Team ihrer Zeit. Bis 1935 kamen sie auf vier Meisterschaften. Die letzten beiden Erfolge hatte der Revolutionär des Fußballs schon nicht mehr miterlebt: Chapman war im Januar 1934, erst 55 Jahre alt, plötzlich und unerwartet gestorben.
Es dürfte nicht übertrieben sein, wenn man die Neufassung der Abseitsregel vom 12. Juni 1925 und die sich daraus ergebende Umstrukturierung des Fußballs als die größte Revolution in der Geschichte des modernen Fußballs bezeichnet. Sie hat das Spiel wieder flüssiger gemacht und deswegen neue Defensiv-Strategien wie Chapmans W-M-System hervorgerufen. Dieses wiederum hatte ein neues Denken über Fußball provoziert. Mit dem W-M-System begann erst die Zeit der Trainer. Sie mussten sich nun permanent neue Strategien und Taktiken ausdenken, damit ihr Team das Spielfeld beherrschen konnte. Der Fußball war zu einem Spiel im Raum geworden, den nun immer neue Generationen von Trainern neu zu strukturieren versuchten. Im Verhindern und Schießen von Toren konnte man fortan nur noch dann erfolgreich sein, wenn man klug und strategisch vorging.
RÄUME
Es ist ganz und gar nicht gleichgültig, in welchen klimatischen „Räumen“ Fußball gespielt wird. Im traditionellen englischen Spiel wurde das Leder von robusten Leuten über miserable, völlig durchweichte und mit Pfützen übersäte Spielfelder getrieben. Wenn man den Ball stoppte, war es schwierig, ihn wieder in Bewegung zu bekommen. Das kalte, regnerische Klima mit entsprechend weichen Böden begünstigte daher die Spielweise des Kick-and-Rush: Schneller Raumgewinn schien nur möglich, wenn man den Ball weit nach vorne drosch in der Hoffnung, dass ihn schnelle Außenstürmer erobern und hoch in den Strafraum bringen, wo dann der Stürmer die Sache per Kopf vollenden sollte. Die Engländer gewöhnten sich an das nasse Geläuf so sehr, dass sie auf keinen Fall mehr darauf verzichten wollten.1954 schlugen Stan Cullis’ Wolverhampton Wanderers die Fußballkünstler von Honved Budapest mit einem Trick: Das Spielfeld wurde so lange gewässert, bis es aussah wie eine Viehweide nach einer Woche mit Dauerregen. Die Ungarn gingen mit 2:0 in Führung, waren dann aber völlig erschöpft. Die schlammerprobten Wanderers gewannen noch mit 3:2.
Kurioserweise entwickelten die Schotten, bei denen die Wetterverhältnisse ja ganz ähnlich sind, schon frühzeitig eine andere Spielweise als die Engländer. Gerade bei Nässe seien steil geschlagene Pässe zu unsicher, so die schottische Auffassung, weil der Ball zu schnell und somit für den angespielten Spieler unerreichbar werde; also verlegten sie sich auf das später als „schottischer Stil“ bekannt gewordene Kurzpassspiel. Selbiges pflegten dann auch die Südamerikaner und Südeuropäer. Wärme und die damit verbundene Härte der Böden, so lautet die Begründung für den in südlichen Räumen gepflogenen Stil, stünden Athletik und Tempo entgegen, begünstigten vielmehr eine langsame, schnörkelige,