Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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Heute ist zudem eine bessere Technik gefordert, da der Ball oft unter Bedrängnis verarbeitet werden muss. Je stärker Athletik und Kondition geworden sind, desto weniger Zeit haben die Spieler bei der Annahme des Balles; immer ist schon jemand da, der ihnen auf den Füßen steht. Credo des modernen Spiels – dort, wo gerade der Ball ist, in Überzahl kommen, gleichgültig, ob nun in der Defensive oder in der Offensive – erfordert ununterbrochene Laufarbeit, um die Wege zum Ball möglichst kurz zu halten. Auf dem Platz findet inzwischen eine Art Wettrennen zweier gut organisierter Einheiten statt. Dennoch ist nicht immer gesagt, dass die am perfektesten funktionierende und am schnellsten reagierende Organisation gewinnt. Im Endspiel des Confed-Cups 2005 konnten die Argentinier ihr Defensivnetz gar nicht so schnell aufbauen, wie die Brasilianer kombinierten. Ihrem Tempo war nicht zu folgen. Und sie ließen nicht nur den Ball laufen. Wenn einer beim Dribbling den Ball verlor, kam aus seinem Schatten sofort ein zweiter, um den verlorenen Ball sofort wieder zurückzuerobern.
Kollektiv agierende Teams mit hohen individuellen Qualitäten, die sich permanent in Bewegung finden und ihre Kurzpass-Kombinationen schnell und sicher vortragen, geben heute den Ton an. Zu schlagen sind sie nur, wenn sie psychisch und vor allem physisch schwächeln. Bei der WM 2002 und bei der EM 2004 wirkten die bis dahin so dominanten Franzosen ausgelaugt. Stattdessen taten sich mit Fitness, Laufstärke und Disziplin Außenseiter-Teams wie die USA und Südkorea hervor. Es zeigte sich: Gerade bei großen Turnieren können sich ausgeruhte und gut aufeinander eingespielte Mannschaften hervortun und sich Vorteile erarbeiten gegenüber den Favoriten, deren Spieler durch eine lange Saison überbeansprucht sind. Und der von dem deutschen Erfolgstrainer Otto Rehhagel betreute krasse Außenseiter Griechenland zeigte bei der Europameisterschaft 2004 sogar, dass man immer noch einen Angreifer sich „totlaufen“ lassen kann, um dann in klassischer Konter-Art über die Außenpositionen per Flanke nach innen zum Erfolg zu kommen.
Selbst wenn die Behauptung zutreffen sollte, dass durch die Temposteigerung zum spielerischen Raffinement immer weniger Zeit bleibt, würde ein langsameres Spiel die an solches Tempo nun gewöhnten Zuschauer vermutlich nur langweilen. In heutigen Spielen erfolgen die Ballkontakte im Sekundenrhythmus. Das Fußball-Tempo liegt damit genau in einem Bereich, dem das Auge noch folgen kann, ohne überfordert zu sein. Läge die Quote höher, würde die Aufmerksamkeit der Zuschauer während des Spiels nachlassen (was zum Teil beim Eishockey der Fall ist); läge sie niedriger, würden die Gedanken der Zuschauer aus Langeweile abschweifen. Die Verdoppelung des Spieltempos und die gestiegene räumliche Komplexität der Abläufe verlangt den Zuschauern mittlerweile allerdings doppelte Aufmerksamkeit ab, wenn sie das Geschehen wirklich verstehen wollen.
Eine weitere Besonderheit des Fußballs gegenüber manchen anderen Sportarten ist darüber hinaus der nahezu ununterbrochene Zeitfluss. Während andere Sportarten immer wieder abbrechen und neu anfangen – beim Football formieren sich die Mannschaften bei jedem Spielzug neu, beim Handball und beim Basketball sind die Unterbrechungen Folge der Vielzahl der Tore – könnte ein Fußballspiel zumindest theoretisch pro Halbzeit 45 Minuten lang nonstop ablaufen. Zwar beträgt die gesamte Realspielzeit im Durchschnitt nicht mehr als 60 bis 70 Minuten, aber das ist im Vergleich zu anderen Spielen immer noch eine sehr hohe Quote. Unterbrechungen gibt es nur, wenn der Ball aus dem Feld geschlagen wird, bei Fouls und Toren sowie zur Halbzeit. Bei Spielen mit permanenten Unterbrechungen und Auswechslungen wäre undenkbar, dass sich eine Mannschaft in einen Rausch spielt.
Aber selbst dann, wenn das Spiel äußerst einseitig scheint, darf der Zuschauer keine Sekunde in seiner Aufmerksamkeit nachlassen. Selbst in den einfachsten Situationen kann urplötzlich etwas völlig Überraschendes passieren: Ein Torwart lässt einen harmlosen Schuss abprallen, oder ein Verteidiger stolpert unverhofft über den Ball, und schon eröffnet sich für den Stürmer eine Chance; ein Angriff misslingt, weil der Ball verspringt, schon verlagert sich das Spiel wieder blitzschnell auf jenes Tor, das gerade noch keinerlei Bedrohung ausgesetzt war. „Kleine Situazione entscheiden große Spiele”, lautet ein Credo des Trainers Giovanni Trapattoni. In jedem Moment muss jeder Spieler aufmerksam sein, um solche „Situazione“ gewinnbringend zu nutzen. Und jeder Zuschauer hat immer mit allem zu rechnen: Alles ist im Fluss, alles kann gelingen oder schief gehen, nie kann man sich sicher sein, was der nächste Augenblick bringen wird. Beim Fußball „springt“ die Zeit gleichsam von Gegenwart zu Gegenwart, und weil jedes Tor schon die Entscheidung bringen kann – aber eben auch nicht muss –, wechseln Hoffnung und Verzweiflung pausenlos einander ab. Bei kaum einem anderen Sport entstehen derart abrupt gänzlich neue Situationen, und so darf man wohl annehmen, dass genau dies viel beiträgt zu der Erregung, die man als Zuschauer beim Fußball empfinden kann.
Beim American Football hingegen beruht das gesamte Spiel auf im Training auswendig gelernten Spielzügen, von denen auf ein Zeichen hin diejenigen abgerufen werden, die eine hinreichend große Erfolgswahrscheinlichkeit garantieren. In anderen Spielen und Sportarten – vor allem bei den Laufdisziplinen in der Leichtathletik – können zeitliche Abläufe vorstrukturiert und geplant werden. Nicht so beim Fußball. Der schnelle Bewegungsfluss und das ununterbrochene Vor-und Zurückwogen der Kontrahenten machen ein Fußballspiel letztlich unberechenbar. Zwar kann ein Trainer taktische Anweisungen geben, zwar können Spielzüge im Training so oft wiederholt werden, bis die Spieler wie im Schlaf kombinieren – am Tag des Spiels wird das alles zur Makulatur, wenn der Gegner, der Verlauf des Spiels oder der Zufall es anders wollen. Einzig bei den Standardsituationen (Freistöße, Eckstöße) sind vorab lang und intensiv trainierte Varianten abrufbar.
Natürlich wird beim Fußball versucht, strategische Züge bis zu einem gewissen Grad vorauszuplanen. Viele Kommentatoren haben daher das Fußball- mit dem Schachspiel verglichen. Der Trainer Felix Magath, selbst ein begeisterter Schachspieler, meinte einmal: „Da und dort spielen zwei Teams auf begrenztem Feld. Die Ziele stehen in der Mitte, der König und das Tor.“ Die Fähigkeiten des österreichischen Fußballheros Matthias Sindelar wurden in einem Nachruf denen von Schach-Großmeistern gleichgesetzt, weil er wie diese mit weiter gedanklicher Konzeption, Züge und Gegenzüge vorausberechnend, unter allen Varianten stets die aussichtsreichste gewählt habe: „Er hatte sozusagen Geist in den Beinen, es fiel ihnen, im Laufen, eine Menge Überraschendes, Plötzliches ein, und Sindelars Schuss ins Tor traf wie eine glänzende Pointe, von der aus erst der meisterliche Aufbau der Geschichte, deren Krönung sie bildete, recht zu verstehen und zu würdigen war.“
Der Versuch, die Abfolge der Spielzüge nach Art eines Schachspiels im Vorhinein zu entwickeln, muss jedoch nicht nur an der Eigenwilligkeit des Balles, sondern vor allem an der Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten scheitern, in denen das Bewegungsspiel Fußball das Brettspiel Schach noch übertrifft. „Wollte eine Fußballmannschaft vor einem Spiel allen (!) bevorstehenden Spielzügen einen und nur einen Ort in ihrem Gesamtplan zuweisen“, schreibt Winfried Uesseler in einer Besprechung der Fußballtheorie Jean Paul Sartres, „sie würde kein vernünftiges Spiel zustande bringen und verlieren.“
Selbst wenn also im Fußball spielstrategische Entwürfe möglich sind und man daher sagen kann, dass das Spiel einer Mannschaft einer „inneren Rationalität“ (Arnold Gehlen) folgt, so entsteht die Faszination dieses Sports doch nicht aus programmierten Entwürfen, sondern aus den in ihm angelegten Entwicklungsdynamiken. Jedes Spiel „lebt“ vom Unerwarteten, vom harterkämpften „Wenden des Blatts“, von urplötzlichen Umschwüngen und von jenen unvergesslichen Augenblicken, die nicht kopiert werden können. „Jede Sekunde ist einmalig“, meint Günter Netzer, und so ist es für den Zuschauer vollkommen unmöglich,