Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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In gewisser Weise war der „Catenaccio“ der Anfang vom Ende der Außenstürmer. In früheren Zeiten blieben die Außenstürmer vom klassischen Typus eines Stanley Matthews einfach stehen, wenn ihr Team gerade nicht in Ballbesitz war. Waren sie bei Ballbesitz gut abgeschirmt und daher nicht anspielbar, konnten sie am Flügel regelrecht „verhungern“. Umgekehrt blieben die klassischen Verteidiger beim Angriff zurück und beobachteten das Spiel aus sicherer Distanz. Im Prinzip hatte Herrera also vor allem „Ausfallzeiten“ reduziert, indem er die Aufgaben der Außenstürmer von den Außenverteidigern mit übernehmen ließ. Englands Trainer Alf Ramsey zog 1966 die Konsequenz, dass er gleich ganz auf traditionelle Flügelspieler verzichtete. Ein Novum war darüber hinaus der „Sweeper“ (Feger) Nobby Stiles, der nicht hinter, sondern vor der Abwehr agierte. Bei Ballbesitz eröffnete er das Spiel aus dem hinteren Mittelfeld heraus.
Das englische System bei der WM 1966 war in der Theorie ein 4-3-3: hinten eine Vierer-Abwehrkette auf einer Linie, davor ein Dreier-Mittelfeld und vorne drei aus dem Zentrum heraus agierende Stoßstürmer. In Deutschland setzte sich wenig später ebenfalls ein 4-3-3 als Prinzip durch, das allerdings etwas anders aufgebaut war. Die Endspiel-Aufstellung 1974 hatte zwei Außenverteidiger (Vogts, Breitner) sowie Libero und Vorstopper in der Abwehr (Beckenbauer, Schwarzenbeck); im Mittelfeld trieben Hoeneß, Bonhof und Overath, unterstützt von dem immer wieder nach vorne gehenden Beckenbauer, das Spiel an; vorne stürmten Grabowski (rechts), Müller und Hölzenbein (links). Vom klassischen W-M-System unterschied sich diese Aufstellung vor allem durch den Verzicht auf die Halbstürmer: Aus dem einen war der Vorstopper, aus dem anderen ein Mittelfeld-Spieler geworden. Der Aufbau des Spiels war relativ statisch. Beckenbauer schaltete sich zwar – nach dem Vorbild des stürmenden Außenverteidigers Facchetti – als offensiver Libero ins Angriffsspiel mit ein, andere Spieler aber klebten an ihren Positionen fest und fielen als reine Verteidiger für das Aufbauspiel praktisch aus.
Auch die Niederländer, der Gegner im Endspiel, spielten nominell im 4-3-3. Aber was für ein Unterschied in der Interpretation! Die „Modernität“ fing ganz hinten an, bei Torhüter Jongbloed, der als erster Offensiv-Torhüter den Ball auch öfter mal mit dem Fuß spielte. Libero Haan kam nicht nur, wie Beckenbauer, sporadisch nach vorne, sondern spielte permanent vor der Abwehr. Die Positionen der Außenstürmer waren zwar besetzt (Rep, Rensenbrink), konnten aber auch von den Außenverteidigern (Suurbier, Krol) übernommen werden. Dann zogen die nominellen Stürmer nach innen. Das konnten sie, weil dort meist Platz war. Der Chef der Niederländer, Johan Cruyff, war nominell nämlich nicht, wie meist angenommen wird, ein Mittelfeldspieler, sondern Mittelstürmer. Er ließ sich aber meist zurückfallen, so dass Platz für andere geschaffen wurde. Wie Cruyff waren auch alle anderen Spieler, dabei immer aufeinander abgestimmt, ständig in Bewegung. In jedem Moment spielten alle mit. Die „Oranjes“ waren ein flexibles, in hoher Geschwindigkeit agierendes Kollektiv, das immer als „Gesamtkörper“ im Spiel blieb. In der Defensive wie in der Offensive verschoben sich alle Spieler ballorientiert – so wie das heute sämtliche Spitzenteams tun.
Ganz anders als bei den Niederländern lief zur selben Zeit das 4-3-3 in der Jugendmannschaft der Sportvereinigung Nürnberg Ost ab. Während die „Oranjes“ den Fußball revolutionierten, spielten wir eine tumbe Manndeckung. Es war ja auch viel einfacher zu verstehen. Manchmal, wenn der Gegner einen sehr starken Spielmacher hatte, hieß es: „Den nimmst du jetzt in Manndeckung.“ Das war eine klare Anweisung. Die Idee war, den besten gegnerischen Mann aus dem Spiel zu nehmen. Man erkannte auch, dass es gar nicht so wichtig war, wenn dann das eigene Läuferspiel nicht mehr stattfand. Falls es gelang, den Gegenspieler zu neutralisieren, waren eben zwei Mann aus dem Spiel genommen; der Rest spielte neun gegen neun. Aber „spielten“ die eigentlich überhaupt? Auch die waren ja in das Prinzip der Manndeckung eingebunden. Der Vorstopper machte es mit dem Mittelstürmer, die Außenverteidiger machten es mit den Außenstürmern, und beim Gegner war es umgekehrt. Wenn der dann auch noch unseren eigenen Spielmacher in Manndeckung nehmen ließ, blieben nur noch zwei „freie“ Spieler übrig: der Libero und der zweite Läufer. Da der Libero aber, wie bereits beschrieben, kein Libero war, lag die ganze Last des Spielaufbaus im Grunde genommen auf den Schultern eines einzigen Spielers. Und bis der dann seinen direkten Gegenspieler fand – auch auf der Gegenseite gab es ja nur noch einen „freien“ Mann – dauerte es nicht lange; und so hatte sich auch noch das letzte Pärchen gefunden, das sich, je nach Ballbesitz, wechselseitig verfolgte.
Wenn einer seinen Gegner verloren hatte und er alleine herumstand, hieß es oft: „Wo ist dein Mann?“ Keinen Mann zu haben, war nicht gut und führte zu Unsicherheit. Man fühlte sich dann irgendwie überflüssig. Und so sah man immer wieder Spieler auf der Suche nach ihrem verlorenen Mann umherhetzen. Keinen Mann zu haben, war nur bei Ballbesitz gut. Dann konnte man durchmarschieren, dann hatte man Platz. Und wenn man vom Gegner angegriffen wurde, konnte man zu dem Mitspieler abgeben, dessen Deckung der gerade aufgegeben hatte. Dieser Fußball war übersichtlich. Er bestand im Wesentlichen aus einem Kampf Mann gegen Mann. Sieger wurde meist, wer die meisten Duelle gewann. Hinten benötigte man bissige Verteidiger, vorne schnelle Flitzer und gute Dribbler, die entweder die Bälle des Spielmachers erlaufen oder ihre Zweikämpfe gewinnen konnten; und einen entscheidenden Vorteil hatte, wer im direkten Laufduell Sieger bleiben konnte.
In dieser Weise wird auch heute noch in den meisten Jugendmannschaften gekickt. Vorteile hat das Team, dem es gelingt, die festen Positionen einmal aufzulösen. Denn wenn einer à la Beckenbauer nach vorne stößt, hat er meist freie Bahn, da die Spieler ihre Positionen nicht verlassen und vor allem die Stürmer es nicht gewohnt sind, sich ins Defensivspiel mit einzuschalten. Im heutigen Profifußball würde sich allerdings ein Libero Beckenbauer im Maschendraht eines im Raum fließend aufgebauten Abwehrriegels verheddern. Heute kann es sich keine Mannschaft mehr leisten, nach einem starren System zu spielen. Heute orientiert man sich in Defensive wie Offensive nicht mehr am Mann, sondern am Ball. Klassische Mittelstürmer, klassische Spielmacher, klassische Manndecker, die nur in bestimmten Situationen am Spiel teilnehmen, sind out. Somit ist das moderne Spiel, weil es jedem Spieler konstruktive Fähigkeiten abverlangt, technisch und taktisch anspruchsvoller geworden.
Das erste deutsche Team, das richtig modern spielte, war der SC Freiburg, der Überraschungsdritte der Bundesliga-Saison 1994/95. Trainer Volker Finke erläuterte damals: „Wir spielen mit jeweils einem Mann auf den Außenbahnen und vor einem Dreier-Abwehrblock, aus dem sich in der Regel ein Manndecker oder der Libero in die Offensive einschaltet, im Zentrum mit drei Mann auf einer Achse. Die verschieben sich ballorientiert.“ Auf der Basis der Grundformation 3-5-2 baute der SC Freiburg mit dem Prinzip strikter Raumdeckung und situationsbedingtem Rochieren ein „System der kurzen Wege“ auf, das eine permanente personelle Überzahl in Ballnähe garantieren sollte. Freiburg hatte den Nachteil, dass man nur durchschnittliche Spieler verpflichten konnte, durch taktische Verbesserungen ausgeglichen. Heute hat sich der Vorsprung aufgebraucht, da alle Teams taktisch nachgerüstet haben. Borussia Dortmund konnte 1995 noch mit einem relativ unflexiblen System Meister werden, weil es die besten Einzelspieler hatte. Heute benötigt man beides: balltechnisch perfekte Einzelspieler und taktische, mit hoher Flexibilität angewandte Disziplin.
Der deutschen Nationalmannschaft des Jahres 2005 mangelte