Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein

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aber sind immer noch die Ideen und Kunstfertigkeiten von Spielgestaltern gefordert. Und natürlich ebenso die Mitspieler, die ihre Entwürfe verstehen, die entsprechenden Wege gehen und so die sich öffnenden Möglichkeiten auch nutzen können. Und beides, die Vorlage und das Eingehen auf eine Spielidee, erfordert wie zu Zeiten Netzers einen hohen Grad an Konzentration und räumlicher Intelligenz.

      In keinem anderen Bereich des Lebens liefen „auf so kleinem Raum mit so einfachen Mitteln so elementare und zugleich hochdifferenzierte Prozesse“ ab wie beim Fußball, bemerkte der Kunsthistoriker Horst Bredekamp. Das menschliche Hirn sei durch das geforderte intellektuelle Spiel mit dem Raum ganz besonders beansprucht. Mit Sicherheit gehöre es „zu den glänzendsten Fähigkeiten, zu denen menschliches Raumdenken fähig ist“, um in Sekundenbruchteilen „die Bewegungen des Gegenspielers mit denen der Mitspieler zu vergleichen und den Ball auf einen Punkt zu spielen, auf dem sich einer der Mitspieler in wenigen Sekunden freigelaufen haben wird“.

      Genau das – die Genialität eines öffnenden Passes im Moment des Abspiels bewundernd zu erkennen – macht gerade für den Zuschauer den ästhetischen Reiz des Spiels aus. Solche „Kunstwerke des Augenblicks“ erschließen sich im vollen Maße erst für den Besucher im Stadion. Denn nur er kann – im Gegensatz zum Fernsehkonsumenten – die Gesamtsituation auf dem Spielfeld als Ganzes überblicken und beurteilen. Für ihn ist es zudem ein besonderer intellektueller Reiz, die nichtrealisierten Entwicklungsalternativen einer Spielsituation zu erfassen; und so wird es unter Fußball-Feinschmeckern zu einem beliebten Spiel, auch die situativ vielleicht bestmögliche Situation noch zu bekritteln. Weil im Fußball „alles“ möglich ist, kann eben nie ausgeschlossen werden, dass man „alles noch viel besser“ hätte machen können.

      TEMPO

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      In der Analyse des Raumes hat sich bereits angedeutet, dass auch die Zeit beim Fußball eine große Rolle spielt. Das beste Abspiel nützt nichts, wenn es nicht zum richtigen Zeitpunkt stattfindet. Kommt es zu früh, ist der Raum noch nicht von einem Mitspieler besetzt, kommt es zu spät, ist er unter Umständen schon ins Abseits gelaufen. Die Kunst, den Ball im richtigen Augenblick an die richtige Stelle zu befördern, nennt man Timing. Eine Flanke oder ein Pass sind nur dann „gut getimet“ und gelungen, wenn sie so geschlagen werden, dass sie der mitgelaufene Spieler auch noch erreichen kann. Besonders schwierig ist das Timing beim Doppelpass, denn hier muss der Ball nicht nur beim Abspiel, sondern auch beim unmittelbaren Zurückprallen in den Lauf des Mitspielers punktgenau serviert werden.

      Für das exakte Platzieren eines Balles zum richtigen Zeitpunkt bleibt beim Fußball nicht viel Zeit. Im Gegensatz zu dem, der eine Fußballstrategie entwirft, kann der Spieler auf dem Platz nicht lange über den richtigen Spielzug nachdenken. Spieler müssen in der Lage sein, schnell Entscheidungen zu treffen. Sie müssen in jedem Augenblick intuitiv das Richtige tun. Nicht umsonst kritisieren viele Trainer Spieler, die „zu viel“ denken. Solche „Vieldenker“ neigen dazu, den richtigen Zeitpunkt für den aussichtsreichen Abschluss einer Aktion zu verpassen. Erfolgreiche Spieler handeln schnell: Von „Bimbo“ Binder, in den 1930er Jahren Torschützenkönig in Diensten von Rapid Wien, hieß es, dass der Torwart oft noch auf seinen Schuss gewartet habe, während der Ball schon längst im Tor lag. Ganz anders dagegen Cyrille Makanaky, Nationalspieler Kameruns, der zu einer ausgelassenen Tormöglichkeit im Spiel gegen Argentinien (WM 1990) bemerkte: „Ich habe zu lange überlegt, ob ich schießen oder abspielen soll. Und als ich dann schoss, hatte ich mich eigentlich entschieden abzugeben.“ Wie dieses Beispiel zeigt, schlummert im Fußball ein dezisionistisches Element, was heißt: Es ist in jedem Falle besser, sich überhaupt zu entscheiden und schnell irgendetwas zu tun, als sich gar nicht zu entscheiden und eine Gelegenheit tatenlos vorüberziehen zu lassen.

      Wer blitzartig handeln kann, hat im Fußball große Vorteile. Kreative Spieler können ein Spiel so „lesen“, dass zwischen dem Erkennen der entscheidenden Situation und dem Spielen des für den Gegner „tödlichen“ Passes nicht mehr als ein Wimpernschlag liegt. Weil sie besser und schneller Möglichkeiten erfassen können als andere, bleiben solchen Spielern auch in scheinbar aussichtslosen Situationen noch Handlungsspielräume offen. Dass gerade die zentralen Schaltpositionen einer Mannschaft auffallend häufig von älteren Spielern besetzt sind, zeigt, wie wichtig für das Erkennen des richtigen Augenblicks die Erfahrung vieler Spiele ist. Es macht darüber hinaus deutlich, dass auch langsame Spieler ein Spiel schnell machen können, sofern sie mit den entsprechenden technischen Fertigkeiten ausgestattet sind, um den Ball in einem Atemzug stoppen, kontrollieren und punktgenau weiterleiten zu können. Denn Schnelligkeit heißt im Fußball weniger, mit dem Ball zu rennen, es bedeutet vielmehr schnelles Handeln im Umschalten von Verteidigung auf Angriff, vom langsamen Kurzpassspiel in die Breite auf einen schnellen Pass in die Tiefe. Beim Fußball geht es weniger um physische Schnelligkeit denn um „Spielhandlungsschnelligkeit“.

      Wichtig ist vor allem ein sofortiges Umschalten bei Balleroberung, um den Augenblick zu nutzen, in dem sich der Gegner noch nicht sortiert hat. Wer den Ball bereits im vordersten Drittel erobert, erhöht seine Torchancen deutlich. Die meisten Tore fallen heute durch das schnelle Ausnutzen von Ballverlusten, vier von fünf Toren gehen nicht mehr als fünf Ballkontakte voran. Früher dauerte es relativ lange, da der Ball erst von einem der technisch meist limitierten Verteidiger zum Spielmacher weitergegeben werden musste, der ihn dann verteilte. Heute erledigt der Mann im zentralen defensiven Mittelfeld die Aufgabe in einem Zug. Beim Angriff des Gegners schließt er die Lücken; kommt er in Ballbesitz, leitet er sofort den eigenen Angriff ein. Ein Geheimnis der nach wie vor erfolgreichen Brasilianer liegt genau in diesem prompten Umschalten bei der Balleroberung; ein eher unauffälliger, aber dennoch enorm wichtiger Spieler wie Emerson versteht es, die für einen Augenblick in der Formation des Gegners entstandenen Lücken sofort für den Gegenangriff zu nutzen.

      Im Fußball braucht es auch Spieler, die in der Lage sind, weit und scharf geschlagene Pässe zu erlaufen – Spieler, wie etwa den legendären „russischen Pfeil“ Oleg Blochin – wichtiger als die reine Laufgeschwindigkeit ist allerdings die Schnelligkeit in der Reaktion. Beim Kampf um den Ball können Hundertstelsekunden entscheidend sein, nur wer auf den ersten Metern schnell antreten kann, gewinnt oder behält den Ball. Viele große Spieler waren in diesem Sinne schnell. So wussten die Gegenspieler Garrinchas zwar alle, dass er fast immer eine Bewegung nach links antäuschte, um dann rechts mit dem Ball davonzulaufen; aber die Blitzartigkeit von vorgetäuschter und vollzogener Bewegung machte jeden Störungsversuch illusorisch. Desgleichen ist der Gegner machtlos, wenn ein Angreifer antrittsschnell den Abwehrriegel durchbricht; düpiert zeigen sich reaktionslahme Verteidiger nach einem plötzlichen Pass; hilflos ist eine ganze Mannschaft, wenn die gegnerischen Spieler den Ball in atemberaubendem Tempo hin- und herflitzen lassen. Verblüfft sind aber auch oft die Schützen eines herrlichen Tores, wie der ehemalige Trainer Dietrich Weise wusste: „Die Zeit zwischen Entschluss und Erfolg entzieht sich der Berechnung.“

      Die Mannschaft, die den Ball mit dem größten Tempo in ihren Reihen zu bewegen vermag, hat zumeist auch die größten Chancen auf den Sieg. Ob und wie häufig das dazu nötige Timing im Passspiel gelingt, hängt wiederum sehr stark davon ab, wie eingespielt eine Mannschaft ist und ob sie während eines Spiels zu ihrem Rhythmus findet. Spieler, die sich gut kennen, „wissen“, wie ihre Mannschaftskameraden sich bewegen und handeln werden, auch ohne dass man vorher eine Verabredung getroffen hätte. In manchen Teams sind die „inneren Uhren“ der Spieler so aufeinander abgestimmt sind, dass der Ball wie ein Weberschiffchen vom einen zum anderen läuft. Eine besondere Feinabstimmung und damit besonders intensives und langes Training erfordern plötzliche Rhythmuswechsel. Hat eine Mannschaft einmal diese Fähigkeit erworben, besitzt sie damit ein besonders wirkungsvolles Mittel zur Überrumpelung des Gegners. Sie kann abwarten, das Spiel langsam machen, den Gegner aus der Abwehr herauslocken oder einschläfern, um dann urplötzlich das Tempo zu wechseln. Tempowechsel und Variationen im Spielrhythmus können wesentlich erfolgreicher und für den Zuschauer auch viel unterhaltsamer sein als ein relativ stupides Anrennen gegen das Tor des Gegners,

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