Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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In der Qualifikation zur WM 2006 jagten vor allem die von José Pekerman trainierten Argentinier vorbildlich im Kollektiv nach dem Ball. Wird der Ball vom Gegner nach außen oder hinten gepasst, ist dies das Signal für die argentinischen Spieler, sich sofort in Richtung Ball zu verschieben, um dem Gegner den Raum abzuschnüren, dadurch unter Druck zu setzen und zu Fehlern zu verleiten. Argentinische Teams machen das Spielfeld nicht nur in der Länge, sondern auch in der Breite enger und stellen ihre Gegner unentwegt in „verdichteten“ Räumen. Andere, Mexiko etwa, schaffen es mit guter Raumaufteilung und enormer Laufbereitschaft, den ballführenden Spieler immer mit zwei Mann zu attackieren. Beim Confed-Cup 2005 kauften sie mit dieser Methode des permanenten Doppelns sogar den übermächtig scheinenden Brasilianern den Schneid ab.
Man kann also auch ohne Ball mit dem Raum spielen, eine Raumordnung vorgeben und dadurch dem Gegner in gewisser Weise das „eigene“ Spielfeld aufzwingen. Doch genau so, wie der Verteidiger dem Stürmer in der Bewegung immer hinterher ist, so ist auch die gesamte Mannschaft, die nicht im Ballbesitz ist, zu einem permanenten Hinterrennen gezwungen. Grundsätzlich hat daher die Mannschaft, die sich im Ballbesitz befindet, mehr Optionen. Und so versuchen auch alle Teams, die gewinnen wollen, das Spiel durch Ballbesitz zu beherrschen. Bis auf die Italiener, die als einzige die geradezu metaphysische Kraft besitzen, ein Spiel auch ohne Ballbesitz zu kontrollieren, streben alle siegeswilligen Mannschaften zunächst einmal nach der Ballkontrolle. Wer den Ball hat, kann entscheiden, was passiert, und der Gegner muss darauf reagieren.
Eine hervorragende Angriffsformation versteht es, sich durch pausenloses In-Bewegung-Sein und Rochieren so im Raum zu verteilen, dass es immer mindestens einen Spieler gibt, der besser zum Ball steht als der Gegner. Gute Mannschaften brillieren mit langen Ballstafetten, die den Gegner zum Statisten degradieren. Während die einen mit schnellen Kurzpässen das Spiel scheinbar mühelos kontrollieren, rennen die anderen hilflos hin und her. Wichtiger als jedes Spielsystem ist daher die Berücksichtigung der grundlegenden Fußballweisheit Sepp Herbergers, der zufolge es im Fußball allein darauf ankomme, „dass man dort, wo die Entscheidung fällt, jeweils zahlenmäßig stärker ist als der Gegner“. Entscheidend für den Torerfolg ist dann der Blick für die Lücke, der Pass in den „freien“ Raum, der für die eigene Mannschaft einen Spielzug ermöglicht, auf den der Gegner nicht mehr rechtzeitig reagieren kann.
Ohne Ball lautet das Credo, die Räume eng zu machen; bei Ballbesitz besteht die Hauptaufgabe darin, sie weit zu machen. Durch das Auseinanderziehen des Spiels – schnelle Flügelwechsel, öffnende Diagonalpässe – sollen möglichst viele Spieler des Gegners aus dem Spiel genommen werden. Für die angreifende Mannschaft stellt sich demnach das Spielfeld im Prinzip als ein geometrisierter Raum mit verschlossenen und offenen Flächen dar; durch deren geschicktes Verschieben will sie ein Übergewicht der eigenen Kräfte in Richtung gegnerisches Tor bzw. Platz für das eigene Spiel schaffen. Zentrale Aufgabe ist, die zunächst noch unsichtbaren Linien zu erkennen, auf denen das Spiel geöffnet werden kann. Genial ist, wer diese Linien erkennt und an ihnen entlang den Ball spielt. Aber natürlich müssen auch die anderen mitmachen und die entsprechenden Wege gehen.
Fußballdenker sehen die Linien besser. Aber Spieler, die den Raum mit ihren Pässen neu definieren können, benötigen auch ein hervorragendes Ballgefühl. Denn nur derjenige, der den Ball „blind“ beherrscht, hat den Blick frei für das Beobachten des Spielverlaufs. Im Gegensatz zum zaubernden Dribbler, der über seiner Ballverliebtheit oft den besser postierten Mitspieler vergisst, zeichnet den Spielgestalter neben guter Technik vor allem der ständige Überblick über die jeweils aktuelle Spielsituation sowie die Fähigkeit aus, mögliche Entwicklungen zu antizipieren. In der Regel weiß ein Spielgestalter schon vor dem Ballbesitz, wohin er den Ball abgeben kann, und in dem Augenblick, in dem er ihn spielt, hat er schon längst einen „Spielfilm“ parat für das, was dann passieren wird. Bernd Schuster beschrieb seine Qualitäten mit den Worten: „Wenn der Ball auf mich zurollt, weiß ich mindestens zwei Stellen, wo ich ihn hinschießen kann.“ Könner wie Schuster haben dann auch die Fähigkeit, den Ball ihren Mitspielern punktgenau „auf die Zunge zu legen“.
Weil sie diejenigen sind, die in oft genialer Weise mit dem Raum spielen und dadurch für die Vollstrecker die Wege zum Tor erst öffnen, gelten vielen die Denker und Lenker im Mittelfeld als die eigentlichen Helden des Spiels. Diese Regisseure oder Spielmacher eröffnen dem Spielverlauf ungeahnte Möglichkeiten, indem sie, wie etwa der geniale Netzer, „aus der Tiefe des Raumes“ einen Pass über die halbe Spielfläche schlagen und damit die Abwehrreihen zerteilen „wie den Pfirsich mit dem Obstmesser“. Aus solchen Pässen, die wie aus dem Nichts plötzlich ganz andere Situationen entstehen lassen, wird der Raum für Überraschungen gezimmert, der den Fußball so interessant macht. Wunderbar anzusehen ist auch das wieselflinke Kurzpass-Spiel der niederländischen Ballstrategen, deren Spiel – vor allem außerhalb Deutschlands – als „brillant Orange“ (David Winner) zum Synonym für schönen Fußball geworden ist. In beiden Fällen wird der Fußball zum Raum-Spiel und damit für den Zuschauer zum ästhetischen Genuss. Die von virtuosen Ballarchitekten auf den Rasen gezauberten Kunstwerke sind zwar nur flüchtige Erscheinungen; doch auch wenn nicht in Stein, so sind sie immerhin in die Erinnerung derer eingemeißelt, die sich für die Schönheit der Fußball-Geometrie begeistern können.
Die klassische Figur des Spielmachers und Regisseurs gilt mittlerweile als überholt. Der lange, öffnende Flugball habe abgedankt, so liest man immer wieder, weil die Räume zu eng geworden seien, weil die verteidigenden Mannschaften zu schnell nachschieben und das Spiel auf schmale Bereiche verdichten würden. Im Mittelfeld gefragt seien daher nicht mehr einsame Strategen à la Netzer, die mit einem genialen langen Pass die Räume „aufreißen“, sondern Teamarbeiter, die einen effektiven Kombinationsfußball aufziehen und den Ball über mehrere Stationen laufen lassen.
Tatsächlich haben mit Lothar Matthäus und Stefan Effenberg die letzten Spezialisten des langen Balles abgedankt. Und tatsächlich fand bereits 1993 der meiste Teil des Champions-League-Endspiels zwischen Olympique Marseille und dem AC Mailand (1:0) nur auf einem etwa 40 Meter tiefen Streifen rund um die Mittellinie statt: Zwei perfekt organisierte Abwehrreihen hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes den Spielraum „geklaut“. Lange Pässe waren da wirkungslos. Dennoch kam es immer noch, wenn auch seltener, zum großräumigem Spiel; so trugen Stefan Effenbergs lange Bälle nicht unwesentlich zum Champions-League-Sieg Bayern Münchens im Jahr 2001 bei. In der Saison 2005/06 ließ sich der Niederländer Raffael van der Vaart vom HSV oft weit zurückfallen, um einen klassischen Pass „aus der Tiefe des Raums“ zu spielen. Der lange Pass ist also noch nicht ausgestorben; doch ist er keine Frage des Prinzips mehr, sondern der sich bietenden Gelegenheit.
Gelegentliche Flugbälle machen aber noch keinen Fußballsommer. Der gepflegte Spielmacher-Pass auf die Flügel mit anschließendem Dribbling und Flanke in den Strafraum ist heute weitgehend Fußball-Nostalgie. Im modernen Fußball setzen die Trainer nicht mehr auf klassische Spielmacher, sondern auf intelligente und ballsichere Leute, die das Spiel aus der Defensive mit klugen Zügen eröffnen können. Frank Rijkaard hat es beim AC Mailand, dem Europapokalsieger von 1989 und 1990, vorgemacht; Edgar Davids spielte bei Juventus Turin ganz ähnlich und wurde 2004 durch Emerson ersetzt, der von Fachleuten wie Urs Siegenthaler, dem Spielebeobachter des DFB, als wichtigster Spieler des aktuellen brasilianischen Teams eingeschätzt wird.
Im modernen Fußball müssen alle mitarbeiten und in der Lage sein, verschiedene Funktionen auf dem Spielfeld auszufüllen. Es gibt keine festen Arbeitsplätze mehr wie einst, als ein Verteidiger nur einen Streifen von 30 x 10 Metern beackerte. Heute geht alles viel schneller, kürzer und meist durch die Mitte, am perfektesten von den Brasilianern vorgeführt. Grundlage ihres „Flipperspiels“ ist eine hohe Laufbereitschaft, eine gute Abstimmung der Laufwege in entsprechenden Spielzonen und eine perfekte Technik, die es erlaubt, Dribblings zu gewinnen und den Ball selbst unter Bedrängnis sicher zu verarbeiten.
Doch auch wenn die Spielgestaltung auf mehrere Schultern verteilt