Sturm über Ravensmoor. Ursula Isbel-Dotzler
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»Aber das können sie nicht machen! Du liebst Flora, du kümmerst dich um sie, sie ist dein Pferd … «
»Daran denken sie nicht. Angeblich ist Flora zu teuer. Das Futter, die Kosten für den Tierarzt und so weiter. Du weißt ja, wir haben nichts als Schulden. Duncans Behandlung kostet ein Vermögen. Aber ich werde nicht zulassen, dass sie Flora verkaufen. Wenn es sein muss, bringe ich sie wieder weg. Oder ich verschwinde mit ihr. Irgendwas fällt mir schon ein, falls es so weit kommt.«
Einfallsreich war Kim und unerschrocken dazu, das stimmte. Im Herbst hatte sie Flora von Ravensmoor weggebracht, um sie vor Duncan zu schützen, und auf Little Eden versteckt. Allerdings war ihr das nur mit Mamas und meiner Hilfe gelungen – und natürlich vor allem mit Stevie Trelawnys Unterstützung.1
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Ich kann nicht behaupten, dass ich gern in die neue Schule ging. Natürlich hatte ich Schwierigkeiten mit dem Unterrichtsstoff. In einigen Fächern, zum Beispiel in Geografie, war ich voraus. In anderen wieder hinkte ich hoffnungslos hinterdrein.
So beschränkten sich meine Kenntnisse in englischer Geschichte auf ein paar Figuren wie Heinrich den Achten, der zwei seiner Frauen hinrichten ließ, und seine berühmte Tochter Elizabeth. Von Königin Victoria wusste ich, dass sie mit Albert, einem deutschen Prinzen, verheiratet gewesen war, den sie abgöttisch geliebt hatte. Sie trug nach seinem Tod nur noch schwarze Kleider und war total pummelig, mit hervorstehenden Fischaugen und Hängebacken.
Mein Vater gab mir einen dicken Wälzer über die Geschichte Englands. Doch er war so knochentrocken und schnarchlangweilig geschrieben, dass ich es nicht schaffte, mich durchzubeißen. Schon nach den ersten beiden Kapiteln gab ich entnervt auf.
Zum Glück hatte Mr Wall, unser Geschichtslehrer, Mitleid mit mir. Er besorgte mir ein paar Videofilme, in denen die wichtigsten Ereignisse und historischen Gestalten witzig und spannend vorgestellt wurden.
Dafür sollte ich einen Vortrag über Hitler und die NSZeit in Deutschland halten. Natürlich hatten wir zu Hause in meiner alten Schule einiges darüber gelernt und auch Filme dazu gesehen. Als ich aber daranging, den Vortrag vorzubereiten, merkte ich, wie wenig ich wusste.
Mama half mir. Sie holte ein paar Geschichtsbücher aus ihrem Regal und setzte sich einen Nachmittag lang mit mir zusammen. Wir überlegten, wie ich den Vortrag aufbauen und abfassen sollte.
»Eigentlich schäme ich mich«, sagte ich zu ihr. »Paps ist zwar Engländer, aber ich bin doch zur Hälfte Deutsche. Die Deutschen haben englische Städte bombardiert und Leid und Elend über Millionen Menschen gebracht.«
»Dafür schäme ich mich auch«, erwiderte Mama ernst. »Obwohl ich nichts damit zu tun hatte, sondern die Generation meiner Eltern und Großeltern. Aber es geht gar nicht darum, sich für etwas schuldig zu fühlen oder zu schämen. Es geht darum, zu erkennen, was falsch gemacht wurde. Wir dürfen nicht die Augen vor dem verschließen, was passiert ist, damit es sich nicht wiederholen kann – weder in Deutschland noch sonst wo auf dieser Welt.«
Ich beschloss, genau das in meinem Vortrag zu sagen. Es lief auch ganz gut. Hinterher hatten wir eine Gesprächsrunde, bei der ein Junge sagte, er habe bisher ziemlich schlecht von den Deutschen gedacht. Jetzt sei ihm klar geworden, dass man die Verbrechen der Hitlerzeit nicht den jungen Deutschen zur Last legen dürfe.
»Aber es gibt doch noch immer eine rechtsradikale Szene in Deutschland!«, wandte ein Mädchen ein.
»Die gibt es bei uns auch«, sagte Mr Wall ruhig. »Rechtsradikale gibt es leider überall.«
In der Pause kam Keith zu mir, ein Junge, der bisher noch nie mit mir gesprochen hatte. Er sagte, sein Großvater sei bei der Royal Air Force gewesen.
»Er flog im Krieg bei den Angriffen auf deutsche Städte mit. Mein Granddad meint, wir Engländer hätten uns auch nicht gerade mit Ruhm bedeckt, als wir Dresden in Schutt und Asche legten und Brandbomben auf unschuldige Menschen abwarfen. Er fühlt sich deswegen heute noch schuldig, weißt du. Granddad hat auch Geld für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche gespendet.«
Nach diesem Tag ging es mir irgendwie besser in der neuen Schule. Mein Bruder Niko hatte mehr Stress als ich. Für ihn gab es keine Kim, die neben ihm saß. Er war völlig fremd in seiner Klasse und musste erst Freunde finden. Im Schulbus war er immer mit Kim und mir zusammen. Keiner kümmerte sich um ihn oder rief ihm etwas zu, wenn wir ein- oder ausstiegen.
»Ich wünschte, ich könnte wieder nach Hause!«, sagte er jeden Tag mindestens einmal.
Auch ich hatte ab und zu Anfälle von Heimweh. Ein Teil von mir sehnte sich noch immer nach unserem kleinen Dorf mit den vertrauten Menschen, vor allem nach meiner Freundin Svenja.
Mama mahnte Niko zur Geduld. »›Gut Ding will Weile haben‹, hat eine von meinen Tanten immer gesagt. Plötzlich findest du einen Freund oder eine Freundin, dann löst sich der Knoten von allein.«
Doch ich merkte, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Er war richtig schlecht drauf, hatte »voll die Krise«, wie er das selbst nannte. Dazu kam, dass ihm Niels fehlte, unser ältester Bruder, der Dritte im Bund. Dabei waren die beiden nicht gerade immer ein Herz und eine Seele gewesen. Seit Niels auf ein englisches College ging und nur noch manchmal übers Wochenende nach Cornwall kam, wurde ihm von der ganzen Familie ein Glorienschein verpasst.
Insgeheim hoffte ich darauf, dass er eines Tages mit seinem Rucksack vor der Tür stehen und sagen würde: Das passt mir alles nicht, es ist einfach zu eng für mich mit all den Typen, die ständig um mich herumschlappen.«
Denn das hatte Niels im Herbst angekündigt: dass er zurückkommen würde, falls es ihm auf dem College nicht gefiele.
Doch es schien ihm zu gefallen. Am vorletzten Novemberwochenende holte ihn Mama vom Bus ab. Er schwärmte den ganzen Abend lang von einem Professor, der Vorlesungen über die Geschichte und Glaubensvorstellungen der Kelten hielt.
»Keltenforscher, das wäre ein Beruf, der mich reizen könnte!«, sagte er.
Mama fragte ihn, wie er damit seinen Lebensunterhalt verdienen wolle. Ich saß neben Niels auf dem Sofa und war glücklich, dass ich wieder seine Stimme hörte, die vertrauten Bewegungen seiner Hände sah, seine Haare, die gewachsen waren und die er im Nacken mit einem Lederband zusammengefasst hatte. Am liebsten hätte ich ihn irgendwo festgebunden, damit er nie wieder von uns fortgehen konnte.
Schließlich erkundigte er sich, wie es Stevie Trelawny ging.
Seine Frage war eindeutig an mich gerichtet. Ich ärgerte mich, weil ich merkte, dass ich rot wurde.
»Ganz okay«, sagte ich möglichst cool. »Glaub ich wenigstens. Ich hab ihn ungefähr zwei Wochen lang nicht gesehen.«
Eigentlich wusste ich es genau. Es waren zwölf Tage, seit ich ihn mit Kim in seinem kleinen privaten Tierheim auf Little Eden besucht hatte. Jetzt im Winter war es schwierig hinzukommen.
Wir konnten die weite Strecke weder reiten noch mit dem Rad zurücklegen und eine direkte Busverbindung gab es nicht. Stevie telefonierte auch nur, wenn es unbedingt nötig war. Ich war nie sicher, ob er sich freute, wenn man ihn anrief.
»Ich dachte, ich fahre morgen mal bei ihm vorbei«, sagte Niels.
»Nimm eine Tüte Pellets für die Pferde mit.« Das kam von Mama. »Und Hafer.